Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ein offener Brief zu Weihnachten

∞  24 Dezember 2009, 13:21

Liebe Nachbarn, Liebe Musliminnen und Muslime,



Die Abstimmung über die Minarettinitiative ist vorbei. Sie hat ein für Viele unerwartetes Abstimmungsergebnis gebracht.


Ich kann sehr gut nachfühlen, dass der Entscheid des Schweizer Stimmvolkes viel Irritation, Misstrauen, ja Unbehagen oder gar Angst ausgelöst hat.
Doch ich kann Ihnen versichern, dass die Fronten nicht in dieser Weise durch das Schweizer Volk verlaufen, wenn es darum geht, Ihnen die Ausübung Ihres Glaubens zu ermöglichen. Viele Schweizer wünschen sich einen offenen und toleranten Umgang, der auf beiderseitigem Respekt beruht und allen Ethnien und Religionen die Freiheit gewährt, die eigenen Bräuche und Riten auszuüben.
Das Minarettverbot ist Ausdruck einer Unsicherheit, ein Indiz dafür, dass wichtige Fragen eine Antwort suchen.


Heute ist Heiligabend. *Die Feier der Geburt Jesu ist für uns Christen DAS Fest der Liebe, und für mich persönlich ist es ein Tag, der wie geschaffen dafür ist, allen Menschen die Hand zu reichen.
Und so träume ich ein wenig:*


Ich erwarte nicht, dass sich alle unsere Probleme in Nichts auflösen. Schon gar nicht sofort.
Aber ich stelle mir vor, was werden könnte, wenn wir ein Vertrauen aufbauen könnten, auf dem Dialoge möglich werden.
Finden Sie den Mut, über Ihre Kultur zu erzählen. Nehmen Sie die Angebote wahr, die sich Ihnen bieten, um die Tiefe und Spiritualität Ihrer Kultur und Religion zu vermitteln. Betrachten Sie Skepsis als Herausforderung, begegnen Sie ihr mit Offenheit und wagen Sie auch die interne Diskussion über die Akzeptanz westlicher Werte, so weit sie unser Zusammenleben, unsere Menschenrechte und das Recht auf Bildung für alle betreffen.

Wenn Sie diese Prinzipien sowie die Verbindlichkeit der staatlichen Gesetze, wie sie bei uns für alle Einwohner gelten, und wie sie Vorrang vor jedem religiösen Recht beanspruchen, anerkennen können, so haben Sie auch Anspruch darauf, dass Sie die gleichen Freiheiten geniessen wie alle anderen Mitmenschen auch. Es soll keine Benachteiligung oder Ausgrenzung von Menschen geben, egal, welcher Ethnie sie angehören oder wessen Glaubens sie sind oder sein wollen.

Ja, es dürfen momentan keine Minarette gebaut werden. Was für Sie schlicht eine Diskriminierung ist, ist gleichzeitig eine Erfahrung, wie Sie vor Ihnen viele anderen Glaubensrichtungen und Konfessionen gemacht haben. Schon immer war es so, dass eine Gleichstellung einer Religionsgruppe dann ihren sichtbaren Niederschlag in Kirchtürmen fand, wenn die Integration tatsächlich auch vollzogen war. Nicht umgekehrt. Die Abstimmung hat ein Dilemma aufgezeigt. Darin liegt auch eine ehrliche Botschaft: Das Schweizer Volk hat Fragen, Unsicherheiten, es sagt Ihnen:
Wir sind nicht so weit. Aber eine überwiegende Mehrheit von uns würde einem Verbot von Moscheen niemals zustimmen. Persönlich wünsche ich mir sogar, dass im Versuch von Architekten, den Bau von Moscheen mit dem Bild unserer Städte in Einklang zu entwerfen, der Integrationsfähigkeit symbolhaft Ausdruck verliehen wird. Ich will Sie nicht in Hinterhöfe verbannen – und ich bin bei weitem nicht der einzige.

Viele Vertreter muslimischer Organisationen haben auf das Abstimmungsresultat sehr besonnen reagiert. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber ich wünsche mir, dass es nicht dabei bleibt, sondern dass auch der Mut dazu wächst, offensiver zu werden – und offener. Wir wollen mehr von Ihnen wissen, und ich wünsche mir, dass Sie die Gelegenheiten dazu wahrnehmen können, im privaten Kreis wie in öffentlichen Veranstaltungen. Dazu gehört auch, dass man offen zu verschiedenen Ansichten, Strömungen und Lebensformen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft stehen und diese sich darstellen lassen kann. Vielfalt muss nicht verwirrend sein. Sie kann auch bereichern – und sie misst sich in ihrer schlussendlichen Akzeptanz an den gleichen Werten, wie sie oben schon angeführt worden sind.

Die christliche Religion ist stolz auf ihr heute – im europäischen Westen – verwirklichtes Prinzip der Toleranz und einer praktischen Trennung von Kirche und Staat. Diese Toleranz gegenüber anderen Religionen zu betonen, steht uns immer gut zu Gesicht, ganz besonders aber am heutigen Tag. Es ist aber keine Toleranz, die auf Gleichgültigkeit basiert. Die Errungenschaften der grösstmöglichen Freiheit bedingen auch die Einsicht, dass diese Freiheit nur so weit reicht, wie die Bedürfnisse des Nächsten es erlauben. Im Streitfall entscheidet ein weltlicher Richter. Und er hat für alle Menschen die gleichen Massstäbe anzulegen. Ein solcher Richter massregelt den Dieb – nie den Menschen. Dieses Urteil steht Gott allein zu. Nur schon unter dieser Prämisse muss es das Gebot für uns alle sein, die Versöhnung und das einvernehmliche Zusammenleben anzustreben.

Und so rufe ich auch alle Schweizer und Westeuropäer auf, in welcher Weise und mit welchem Glaubensverständnis auch immer Sie Weihnachten bei uns feiern: Lassen Sie sich von diesem Fest inspirieren und erleichtern Sie die versöhnenden und öffnenden Schritte, indem Sie das Angebot zum Dialog nicht theoretisch bleiben lassen, sondern es praktizieren. Seien wir uns bewusst, wie schwierig es für Menschen anderer Kulturen ist, sich in unserer Welt einzufügen. Machen wir mit unseren offenen Armen Mut dazu, nicht nur Anpassung zu wollen, sondern echte Integration zu wagen. Die Schweiz ist ein multikulturelles Land, das sich in seinem Kern durch die Vielfalt seiner Bewohner stets gefährdet, aber auch bereichert sehen kann. Lassen Sie uns diese Vielfalt pflegen und dafür einstehen – mit allen Verbindlichkeiten, die dazu gehören.


Frohe Weihnachten allen Menschen, und Frieden im Zusammenleben!


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Bild: caritasverband-passau.de