Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Block macht für einen Moment Ordnung

∞  15. März 2010, 20:38

Block legte das Messer ab. Es drehte sich vom Teller weg und zeigte in die Leere der Wohnung. Er sah es nicht. Block war weit weg.
“Was denkst Du?” fragte sie.
Seltsamerweise bedrängte sie ihn diesmal nicht, diese Frage aller Fragen unter Eheleuten. Obwohl er keine Antwort darauf hatte. Er wusste nicht, was er gedacht hatte. Er wusste nur, dass er ganz bestimmt etwas gedacht hatte. Etwas Unwichtiges, Unbestimmtes. Fern und nicht greifbar war er, auf seinen unsteten Gedanken reitend und sich ständig mit ihnen auflösend, wie ein Geruch, der sich in der Luft verliert, bevor er sich bestimmen lässt.
Sie rührte mit dem Löffel in ihrer Suppe, und es schien, als würde sie ebenfalls zu einem unbestimmten Duft. Fern genug war sie ihm in diesem Augenblick. Block fühlte eine Wehmut in sich aufsteigen, die ihn schlucken liess. Und jetzt roch er tatsächlich etwas. Den Broccoli in der Suppe. Er liebte Broccoli. Block griff zum Messer und richtete es am Teller aus, bevor er die Hand erneut wegnahm. Einem Ding seine Ordnung geben, das hatte was. Das schenkte Ruhe, ja, eine Spur von Glück, wenn man für einen Moment an nichts anderes denken konnte, als daran, ein Messer gerade zu rücken.
Block griff zum Löffel und hörte sich sagen: “Guten Appetit, mein Liebes. Es riecht phantastisch.”




Block steht still

∞  5. März 2010, 19:33

Block stand da. Er hätte nicht mal zu sagen gewusst, warum. Manchmal ist es ja eine Hilfe, wenigstens zu wissen, ob man denn da sein dürf(t)e, wo man eben war oder zu sein glaubte. Auch das war schwierig. Es führte ein Weg hier hinauf, breit, ausgewalzt und fest gefahren, teilweise gar geteert. Block wusste nicht, ob die Strasse einfach übrig geblieben war, als kein Bauschutt mehr transportiert werden musste, zu schön und zu aufwendig, um wieder abgebaut, zerstört zu werden, wenn auch nicht länger mehr zu etwas nütze. Denn sie führte nirgends mehr hin. Den Berg hoch an eine Wand aus Quadern, geädertes Gestein, glitzernd schön zu Kuben gewürfelt und an den Hang, in den Berg hinein gesetzt, um das Loch, die beiden Löcher, die klaffenden Wunden darunter im Berg, gegen den Hangdruck zu stabilisieren.

Und so stand Block, den Druck des Berges hinter sich im Rücken, mit dem Blick ins Tal, und rührte sich nicht. Unter ihm glitten Autos aus den Löchern, wie an Schnüren gezogen, den Löchern auf der anderen Talseite entgegen. Sie zogen eine Spur unter Blocks Füssen, und liessen ihn allein, wurden von Zeitsträngen gezogen, nicht da, und noch nicht woanders, die Fahrer in Gedanken ganz sicher nicht gerade fünfzig Meter über dem Talboden. Und obwohl Block auf der Erde stand, über ihnen, unbeweglich, so ahnte er doch, dass in diesem Moment niemand so genau wie er selbst wusste, wie gross die Täuschung war: Nichts hatte Stand, beständig war nur die Unrast, ewig ist nur die Zeit, die wir verlieren, während wir Ameisen gleich einer inneren Uhr gehorchen, die wir nie eingestellt oder justiert haben. Wir leben gegen sie an und verlieren doch an Boden.

Ein Auto fährt allein und sehr einsam am anderen Ende des Tals in die Röhre hinein. Es hat kein Licht. Wie unachtsam.




Zwei fremde Mütter

∞  6. November 2009, 20:24

Eigentlich wollte ich erst die folgende kleine Situation, die eine reale Begegnung von heute beschreibt, zum Aufhänger für viele Fragen und Aussagen machen. Aber ich habe mich anders entschieden. Ich gebe nur das wieder, was ich im Moment blitzschnell bemerkte, aufnahm, registrierte – und lade Sie dazu ein, sich dabei mit mir auf die Bank zu setzen.


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Ich habe noch etwas Zeit. Auf jeden Fall kann ich heute nicht genug Sonne kriegen, und weil diese Sonne gerade so schön und kräftig scheint und so freundlich ist, genau die Bank vor mir anzulächeln, setze ich mich hin und recke das Kinn gen Himmel, schliesse die Augen und geniesse die prickelnde Wärme auf meinen Wangen.


Von links nähern sich stöckelnde klackende Schritte. Ich blinzle in die Richtung, und mir nähert sich die Frau, die ich mir unter diesem Stöckeln so ungefähr vorgestellt habe. Schlank, kniehohe Stiefel, enge Leggins, weiter Pullover. Schlenkernde, grosse, zu grosse Ohrringe, die in der Sonne blitzen, wallendes blondes Haar, hoch stehende, markante Backenknochen, dunkel geschminkte Augen. Sie hat einen leicht mürrischen Zug um den Mund und presst die Lippen zusammen, bevor sie den Rauch der Zigarette ausstösst. Dann ruht die Hand wieder auf dem Stossbügel des Kinderwagens, den sie vor sich her schiebt; der Zigarettenrauch steigt mir in die Nase, bevor sie an mir vorbei geht. Ich wende mich um und blicke in die andere Richtung: Auch hier kommt eine Mutter mit Kinderwagen, fast das gleiche Modell, scheint mir. Die Frau trägt unförmige schwarze Schuhe mit hohem Schaft und flachen Absätzen. Sie ist total verschleiert. Vollständig. Kein Sehschlitz, die Stoffbahnen fallen von ihrem Kopf über die Schultern nach unten, die Arme stecken in langen schwarzen Handschuhen. Das grelle Orange des Kinderwagens und das bunt gekleidete Mädchen an ihrer Hand wirken dagegen absurd. Die Augen des Mädchens sind dunkelbraun, sie versprühen Lebensfreude, und das Mädchen scheint die Blicke, die auf ihr und ihrer Mutter haften, nicht zu bemerken. Wer immer sich im Moment in der Ladenpassage befindet, schaut den beiden nach, oder starrt ihnen entgegen. Praktisch vor meinem Bänkchen kreuzen sich die Mütter, und gehen ihren Weg weiter, wie an der Schnur gezogen.




Zwei Leben im späten Herbst

∞  12. November 2008, 07:00

Ich war kürzlich am Greifensee spazieren. Wieder einmal wurde mir bewusst, welche Besonderheit dieses Stück Natur darstellt, mitten im rege überbauten Siedlungsgebiet nahe der Stadt Zürich. Weite Teile der Ufer “gehören” der Öffentlichkeit. Spazierwege durch Moore und Naturschutzgebiete, Radwege, riesige Bäume.



AM GREIFENSEE (C) THINKABOUT


Ich weiss nicht, welcher Immoblilenmakler bei der Nennung der Preise für Wohnraum in der Umgebung nicht auf das Naherholungsgebiet hinweisen würde, aber es ist auch wirklich eine ganze Menge wert. Eigentlich ist es unbezahlbar.

Es ist eine Ruhe um mich, die Sonne wärmt, als wäre noch September, dabei stehen die Bäume in den leuchtendsten Novemberfarben da und wissen um das nahe Ende. Überall beginnen rot-gelbe Teppiche sich feucht auf noch immer grüne Wiesen zu legen. An diesem Tag hat das leuchtende Blau des Himmels jede Dunstschwade weg gebrannt, und ich blinzle in die Sonne, muss die Augen zukneifen, während ich mich auf einer krummen Bank ausstrecke.

So sehr macht mich die wärmende Sonne blind und taub, dass ich die Frau mit ihrem Hund gar nicht höre noch sehe, bevor sie mich anspricht: Ob hier noch frei sei, fragt sie, denn sie brauchten nun eine Pause. Durch tanzende Sonnenpunkte vor meinem Gesicht blicke ich in traurige Augen, zu denen die stumpfgrauen Strähnen passen, die sich die Alte aus dem Gesicht streicht, kaum hat sie ihre Frage, die eigentlich mehr eine Aufforderung ist, ausgesprochen. Dennoch rücke ich bereitwillig zur Seite. Schliesslich ist die Bank für alle da und breit genug ist sie ja auch.

Wieder einmal ist es ein alter Mensch, der mir gegenüber sein Bedürfnis klar und deutlich formuliert, wie jemand, der nicht mehr allzu viel Zeit hat, um zu seinen bescheidenen Rechten zu kommen.

Die Frau ist nicht allein. Ein Hund mit dunkelbraunem Kurzhaarfell und hängenden Ohren steht vor mir. Mühsam schiebt die Alte das Hinterteil ihres Vierbeiners so zur Seite, dass sich dieser zwischen unsere Beine legen kann.

Warum nicht die Freude an diesem Tag mit dieser Frau teilen? Ich schwärme also von der Sonne und den Farben, und wie herrlich es sei, hier sein zu dürfen. Doch meine Sitzgenossin ist traurig. Ihre Stimme klingt müde, denn der Hund ist krank. “Dabei ist er erst fünfeinhalb. Das ist für einen Hund nicht alt”, sagt sie. Natürlich ist es das nicht, und während ich in seine müden Augen blicke, höre ich, was ich schon vermutet habe: Er hat ein böses Bein, ist operiert worden, doch es wird kaum besser. Jeder Schritt vor die Tür ist eine Qual für ihn. “Ich werde ihn einschläfern müssen.”
Ich frage, welches Bein denn das kranke wäre, und greife dem Tier dann ans linke Vorderbein, umschliesse es mit weicher, streichelnder Hand, bleibe ganz ruhig bei ihm, beuge mich dabei tief vornüber und bleibe ansonsten unbeweglich kauernd sitzen. Sein Atem beruhigt sich, seine feuchte Zunge schleckt über meinen Handrücken. Dann stupst mich der Hund mit feuchter Nase an, leckt mir das vornüber gebeugte Kinn. Ich beginne, mit meiner Hand höher zu fahren, spüre nur Haut und Knochen, kann nicht helfen, nur wissen, was der Hund auch weiss.

Die Frau wird sich von ihm trennen, statt selbst gehen zu können. Sie wird einen grossen Trost verlieren und einen sehr grauen Dezember erleben.

Ihren Hund aber werde ich nicht vergessen. Die demütige Ergebenheit, mit der er vor mir hockte und mir von seinem Leiden erzählte, und wie er doch in diesem Moment ohne Bitterkeit zu sein schien, ja mir noch ein Stück meiner aufkommenden Traurigkeit aus den Gedanken wischte: Das wird mir bleiben. Es hatte eine Art von Würde, die auch nicht zerstört wurde, als das arme Tier neben der Alten davon humpelte, wobei es links vorn kaum aufzutreten vermochte.

Wie waren diese Beiden an diesen Ort zu mir auf die Bank gelangt, für dieses Tier absurde mehrere hundert Meter von jedem Auto oder Haus entfernt?

Wir Menschen mögen einander manchmal für Gefühlsdusel verlachen. Wir mögen in genau solchen Momenten anfügen, dass wir nur sehen und fühlen, was wir wollen, was wir hinein interpretieren im Zustand unserer momentanen Stimmung. Und doch ist mir bewusst, dass die Alte neben mir auf der Bank ein weiteres Stück Mut gesucht hat für das Unvermeidliche. Ich hoffe, sie hat etwas davon gefunden. Mag es auch noch so traurig sein.
Ich wünsche ihr Menschen, die ihr selbst Hände auflegen und sie in den Arm nehmen, ich wünsche ihr Herzlichkeit und ein wenig Aufnahme in erlebter Gemeinschaft. Und ich muss an unsere Gesellschaftsordnung denken, die, rational völlig konsequent, Pflegesysteme für unsere Alten erschaffen hat, während wir unserem scheinbaren Leben nachhecheln. Diese Systeme sorgen für unsere Alten. Manchmal finanzieren sie sogar einen Hund.

Schön wäre halt, sie würden mehr solche Begegnungen möglich machen. Aber ich weiss, das liegt nicht am System. Das liegt an uns und an dem, was wir in dieser Hinsicht zuzulassen bereit sind.



DIE BANK, AM GREIFENSEE (C) THINKABOUT


°


Der Text wird in einigen Tagen in die Sektion ERZäHLT verschoben.




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und
Zeit und Leere



es ist leichter, am Leben zu hangen als über anderes Leben zu entscheiden


Block in der Pflicht

∞  3. November 2008, 21:34

Block erzählt seiner Frau von seinem Tag. Dem schwierigen Meeting, an dem eigentlich alles so war, wie erwartet. Sie haben mit dem Kunden zwei weitere Stunden das Problem erörtert, jeder hat die eigene Sicht der Dinge eingebracht und darstellen können.




Bild: via Sylvia Henderson


So weit, so gut, so respektvoll. Und er kann ihr auch erzählen, dass seine Arbeit geschätzt wird. Sagt man. Sagen alle. Das, immerhin freut ihn. Als wäre es die einzige Sicherheit in unsicher gewordenen Zeiten.

Sie lächelt ihn an. Dann glättet sich der Strich ihrer Lippen, ohne hart zu werden, und sie fragt ihn:
“Belastet dich das eigentlich nicht, dass sie so viel von dir erwarten?”
So hat er es noch gar nie gesehen: Anerkennung als Beginn der nächsten Erwartungshaltung?
Block verneint die Frage seiner Frau, denn der Auftrag ist nicht überlebenswichtig. Nicht für ihn. Und die Last für andere, die verdrängt er. Das sagt er auch laut, und er sagt es leicht dahin, wie er glaubt, doch die eigenen Worte klingen in ihm nach. Zwei Stunden später sitzt Block auf dem Sofa, und die Augenlieder sind bleiern schwer geworden an diesem nachtschwarzen Abend.

Was ist es doch für eine Krux, denkt er, mit der Wertschätzung für den Pflichtbewussten. Sie nimmt ihn erst recht in die Pflicht und sichert sich so seine Verlässlichkeit. Block sagt sich, dass er sich von seinen Eitelkeiten lossagen will, um frei zu sein, zu leisten, was möglich ist, und hinzunehmen, was unvermeidbar bleibt. Auch für andere. Denn Block hat nur zwei Schultern. Er trägt nicht die Welt, und sie nicht ihn. Auch er schwimmt den Fluss abwärts, und sei es nur, weil alles andere eine Zwängerei wäre. Und bei der Stromschnelle da vorne wird er sich kurz zuvor in der Kurve hinaus treiben lassen und im seichten Wasser des Ufers auftreten und aus dem Fluss steigen, um die kritische Stelle zu Fuss zu umgehen.

Er wird also tun, was er kann, und dann wird er sehen, ob das ausreicht. Mehr ist eigentlich nicht zu sagen.





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Figurales
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Pflichtbewusstsein darf nicht der Pflock an der eigenen Kette sein


Von einem Geplauder, und was davon blieb

∞  28. Oktober 2008, 22:42

Von meiner gestrigen Bahnfahrt durch die halbe Schweiz mag ich vorerst nur von einem Moment erzählen, einem Gedanken, der, einmal formuliert, den ganzen Tag über irgendwie bei mir blieb.
Es war im Golden Pass der ehrwürdigen Zentralbahn, als diese uns in einem sehr gemütlichen, sehr holzig möblierten Wagon gegen den Brünig buckelte und dabei von links nach rechts schwankte wie ein alter Schoner auf schwerer See, als ich einfach eine Weile nicht mehr anders konnte, als dem Geplauder weit hinter mir im mehr als halbleeren Wagen zu lauschen. Was es doch alles zu reden gibt, zumindest an einem Tag wie heute, der wohl für jeden von uns in diesem Zug ein Ferientag sein musste – ich konnte und kann nur staunen. Dabei war meist die gleiche hohe, leicht kratzende Frauenstimme einer älteren Frau zu vernehmen, die einfach nicht riskieren wollte, dass einer ihrer drei Mitreisenden etwas nicht sehen könnte, was sie eben selbst gesehen hatte.

Ich neigte den Kopf leicht zur Seite, und mein Blick kreuzte sich mit dem meiner Frau. Sie rollte die Augen und wir mussten lachen. Gott sei Dank, sagte sie, bist Du anders. Ich schmunzelte auch, und wurde wieder still.

Kaum einer meiner Freunde dürfte mich schweigsam nennen. Und dennoch sind es wohl gerade die Feunde, die wissen, was ich mit meiner Ruhe meine, die ich brauche. Bin ich mit einem Menschen allein, so kann ich sehr still werden. Ich liebe das Reden, aber ich mag es noch mehr, wenn es zu einer Stille führt, zu einem Einvernehmen, in dem man zusammen schweigen kann. Fühle ich mich in einer Gruppe unwohl, unsicher, so neige ich dazu, mich redend erklären zu wollen. Was eigentlich nie zu mehr Sicherheit führt…

Schweigsamkeit ist also etwas für besonnene, in sich ruhende Gemüter, und kann man sie zusammen leben, so wird die Sprache sparsamer, das Verbindende aber greift tiefer. Es ist, als würde der Hall der eigenen Stimme nicht länger die Schwingungen aus der eigenen Seele überlagern.

Und dann begleitete mich auch noch ein Gefühl von Wehmut, das sich in eine Form von Demut verwandelte: Ich dachte an meine Freunde, die trotz meiner lebendigen Art genau wissen, wovon ich rede, wenn ich von der gelebten Stille erzähle, und dann dachte ich an Momente, in denen ich mir selbst zuhören kann, wie einem guten Freund, und ich sann darüber nach, wie anders die eigene Stimme klingt, wenn sie nicht überzeugen will, sondern nur erzählen.

Und während ich so meinen Gedanken nachhing, gab es keinen Grund, zu reden. Niemand tat es neben und hinter und vor mir, denn mittlerweile fand ich mich in einem Pendlerzug wieder, in Lausanne, umgeben von Menschen, die viel dringender nach Hause wollten als ich selbst.

Ja, und später, im Nacht-Zug von Genf nach Zürich, da redete ich mit Thinkabouts Wife mehr, als den ganzen langen Tag zuvor, denn wir waren müde und versuchten, unsere Kopfschmerzen zu verscheuchen. Wir formten Worte dagegen und fanden sie, und über den ausgetauschten Worten trafen sich unsere Blicke. Und an Deine Augen, mein Liebes, an die kann ich mich auch heute genau erinnern.


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Bild: (c) Thinkabout: Pendlerzug im Bahnhof von Lausanne, 27.10.08




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wer reist, wird von seiner Umgebung besprochen


Vor dem anfahrenden Tag

∞  16. Oktober 2008, 20:16

Es ist früh am Morgen, viertel vor fünf. Ich nehme Abschied von meiner Frau und stehe nach ein paar kurzen Schritten in der Haupthalle des Hauptbahnhofs Zürich. Sie ist praktisch leer. Der Teer glänzt wie unter einer Speckschwarte. Keine Ansage über Lautsprecher . Es ist still. Die grosse Anzeigetafel hat die ersten Züge alle starr aufgelistet. Ganz oben links haben ein paar Verbindungen auch ein Gleis angezeigt. An zwei Perrons stehen Züge, deren Loks mich mit blinden Fenstern stumm anstarren. Vier, fünf Männer verlieren sich in der Halle, drücken sich an verschlossenen Läden vorbei. Ein einziger Schalter der SBB hat geöffnet, einen Angestellten dahinter sehe ich nicht. Selbst die Ticketautomaten scheinen noch zu schlafen.

Keiner scheint freiwillig hier zu sein und ich wäre verloren, wenn nicht alle Stille hier wüsste, dass es gleich losgehen wird mit dem Reisen. Wie mit einer Bewegung, die steife Muskeln zu lockern vermag. Mein Zug steht da. Ich ducke mich unter dem blinden Lokfenster hinweg und gehe den Bahnsteig entlang. Die Lichter im Zug sind an, die Tür reagiert auf mein Drücken, öffnet sich mir. Fast hätte ich “guten Tag” zu ihr gesagt, in die Leere, die sie in mir öffnet.

Man könnte meinen, im Abteil hätten sich Menschen versammelt, die vor der herbstlichen Kühle draussen geflohen wären. Ein junges Paar steckt die Köpfe zusammen, brütet über Reiseunterlagen. Deren Tourenräder stehen dahinter vor dem Abteil. Der junge Mann sieht mich und kommt auf mich zu. Ich lächle ihn an. Ob ich wüsste, wo man für die Fahrräder Tickets lösen könne? Na, am Billetschalter, meine ich, aber ich rate ihm, nach dem Zugbegleiter zu sehen. Die Zeit ist zu kurz für den Gang zum Automaten. In fünf Minuten beginnt der Bahnhof zu pulsieren. Der Mann huscht davon.

Im Abteil daneben sitzt ein schmaler, scheuer Mann mittleren Alters, mit dunklen Augen, deren unsicherer Blick nicht von mir weichen will. Ich schaue zurück. Er will mir sein Ticket zeigen. Nein, ich bin nicht der Schaffner. Ob ich ihm sagen könne, dass mit seinem Ticket alles in Ordnung sei? Ich schaue es mir an. Eine Tageskarte. Bis 05h45 heute. Alles korrekt. Ich beruhige ihn. Er lächelt nur schwach zurück und lässt sich, nicht wesentlich entspannter, zurück aufs Polster fallen, wo er in sich versinkt.
Dann geht ein Ruck durch die Bänke, und wir fahren neben einander her zum Flughafen. Ich weiss nicht, wer von uns den Tag begrüsst, oder ob er einfach über uns alle kommt und uns einpackt in die anfahrende und wegfahrende Zeit.

Vor dem Fenster beginnen die Wege und Strassen vorbei zu gleiten bis sie nur noch tanzende graue Schatten sind. Das Tempo wird höher. Ich schliesse einen Moment die Augen und wende mich meiner Lektüre zu. Ich lese:

Unsere Gedanken zum Reisen sagen uns viel über den Zustand, in dem wir uns befinden.


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Sind wir als Reisende leichter bereit, zu Gefährten zu werden?


Stadtbesuch

∞  18. September 2008, 15:06

Begegnungen – müssen sie immer körperlicher sein, nachhaltiger, als ein Windhauch, der sich für einen Moment im Haar verfängt?




In einer grossen Stadt fremd sein dürfen, kann sehr schön sein. Vor allem dann, wenn das Wuselige, das scheinbar Beschäftigte um mich herum nichts mit mir selbst zu tun hat. Wenn alles von mir weg fliesst, an mir vorbei schiesst, während ich selbst da stehe und mich wundern darf. Das Aufgeregte hat nichts mit mir zu tun. Ich arbeite hier nicht. Ich bin wie zu Besuch. Bei wem? Ich bin nicht eingeladen. Die Stadt öffnet sich mir oder auch nicht. Von was hängt das ab? Nicht zuletzt von mir.

Dennoch ist es wunderschön, diese Hilfe zu erfahren: An einer Kreuzung zu stehen, den Stadtplan in der Hand zu drehen und mit dem nach links und rechts zur Seite gelegten Kopf ganz offensichtlich so fragend hilflos zu wirken, dass mich ein Passant anspricht, ob er mir denn helfen könne?

Wenn Sie einem Menschen in Ihrer Stadt fünfhundert Meter weiter helfen, dann ist das eine besondere Art von Gastfreundschaft, die dieser Mensch vielleicht für immer mit Ihnen verbindet. Dann sind SIE Zürich. Oder Bern, St. Gallen, Andelfingen oder Uzwil.

Ich gehe manchmal eine Häuserfassade entlang bei Tage. Ich wundere mich über die unterschiedlichen Baustile, sich vertragende oder widersprechende Farben, in der breiten Palette zwischen Lieblichkeit und Widerspruch. Ich sehe einen kleinen Zwerg, wie es ihn zu Tausenden geben dürfte, auf einem Fenstersims hinter Glas sitzen, vor geschlossenen Gardinen. Ich sehe Häusergiebel, die sich in Fenstern spiegeln, gekrümmt von gewölbtem Glas, verbogen in meinem indirekten Blick. Ich sehe einen Vorhang, der sich bewegt, ich sehe blindes Glas und Staub, während davor ein alter Mann, vor langer Zeit in seinen Kaffeehausstuhl abgesunken, die Ellbogen an den knochigen Körper gepresst, mit spitzen Fingern seine staubige Brille putzt. Das grüne Tuch in seinen Händen leuchtet hell und intensiv.

Der Optimismus dieser schönen, einfachen Tätigkeit wird von der jungen Frau auf dem klapprigen Fahrrad aufgenommen, indem er sich auf ihre Lippen regt und sie mich anlächeln lässt, während sie genau vor mir um die Ecke biegt.

Je weicher das Licht wird, um so länger strecken sich die Schatten über den Boden. Der Kellner nimmt die Bestellung auf. Die Luft weht kühler und fährt mir in unregelmässigen Abständen durchs Haar. Ich blicke an der Fassade hoch und sehe die ersten Lichter angehen. Nichts spiegelt sich mehr in den Fenstern. Die Schatten dahinter gehören den Bewohnern, die Gardinen sind eine Art Schattenbewahrer.

Die Lichter werden zahlreicher und flüstern etwas von den Leben, die sie beleuchten. Sie sind so zahlreich, so verschieden und doch so erzählenswert, mögen sie sich auch noch so einsam fühlen.

Für mich wird es Zeit, mich auf einen langen Heimweg zu machen, vorbei an diesen Leben, während ich das eigene ganz achtsam in mein Hotel tragen will. Wenn ich es bewusst tue, wird es mir nicht schwer fallen, den Blickkontakt mit anderen Menschen zu suchen, während ich gehe. Ich will es so tun, dass ich keinen von ihnen erschrecke oder bedränge damit – und so, dass ich von Zeit zu Zeit doch einen Augenaufschlag erkennen darf, offene Augen, die einen Blick erwidern können und ihrerseits mein Lächeln weiter tragen. Schliesslich wird der Mann mit der geputzten Brille bald auch nach Hause aufbrechen und die Frau mit dem Fahrrad auch am Ziel sein.

Es sollte nicht sein, dass sie nicht ihrerseits von einem Lächeln erwartet werden.


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[Bildquelle: Caro N., Fotocommunity ]




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und
Zwischen Tagen schwebende Gedanken


einsam oder allein - unter einander ist das eine persönliche Frage

Idaplatz

∞  8. August 2008, 20:33

Ein intaktes Quartier ist oft eine Art Städtchen in der Stadt. Die Cafés drücken sich klein und verspielt in winzige Ecken, die Trödler erobern das Trottoir vor dem Geschäft, der Schuhmacher, der mit seinem Faktotum von einem Laden doch schon vor zwanzig Jahren unmöglich überleben konnte, ist immer noch da.




Vorn an der Kreuzung hört man den Verkehrslärm, wenn die Autolenker mit starrem Blick für die Kolonne ins Nirgendwo Gas geben und entschwinden. Doch wenn man hier um die Ecke biegt, breitet sich eine Art Dorfplatz aus, der von einigen still rostenden klapprigen Fahrrädern bewacht wird. Alles hier lässt der Zeit ihren Lauf, und daran ändert auch nichts, dass der Platz erst kürzlich renoviert wurde.

An drei Ecken stehen dem Passanten die anarchisch zersiedelten Stühle von Cafés wie Zeugen vergangener und wieder verheissener Gemütlichkeit im Weg. Hier geht man nicht vorbei. Hier kommt man hin. Und sonst hat man hier irgendwie nichts verloren. Dann sitzt man vielleicht am kreisrunden Platz in der Mitte auf einem der neuen Bänke, die neu bekrittelt und bekritzelt und beklebt sind mit kundgebenden kundigen und unkundigen Kommentaren zu allem, was die Welt bewegt oder bewegen sollte: Nein zum Polizeistaat.

Zum ersten Mal fällt mir auf, dass mich links aussen eigentlich das gleiche Phänomen erwartet wie rechts aussen: Die Penetranz der Neinsager. Und was man sich so herholen und sich zurechtbasteln muss, um dann kräftig NEIN sagen zu können, ist, eben, weit hergeholt.

Aber irgendwie passen meine Gedanken gar nicht hierher, sind viel zu verkrampft angesichts einer Nonchalance, mit der hier allem begegnet wird, was ein bisschen aufgeregt scheinen mag. Jene, die das wissen, sehen sich vor, und drosseln schon früh das Tempo: Der Paketbote hört sogar auf, beim Fahren auch noch ein SMS zu tippen, und der Müllkipper schiebt sich Meter für Meter am Platz vorbei, aber nicht ganz: Der Fahrer hält schliesslich ganz an, unmittelbar vor dem Café am Eck, und lässt sich, tatsächlich, einen Espresso reichen.

Den alten Herrn neben mir interessiert das nicht. Er hat sich mit seinem knochigen Hintern auf die Parolen auf der Bank gesetzt und liest den Blick.
Rechts von mir, auf der Bank unter den Bäumen lauscht eine Frau um die vierzig in die Stille, als würde sie das Rauschen des Windes in den Wipfeln über ihr vermissen. Ihre Augen schauen entspannt ins Leere, und ich versuche vergeblich, den Fluchtpunkt ihres Blicks am Rande des Platzes auszumachen. Es gibt keinen. Die Leere füllt sich irgendwo im unterbewussten Denken zu einem Tropfen Zeit auf, wie es hier die Menschen jeden Tag erleben.




Ich stehe auf und schlendere umher, die Kamera in der Hand, auf der Suche nach Kleinigkeiten. Buchstaben in der Wirrniss des Verfalls, auf abgerissenen Plakatfetzen, die sich um eine dicke steinerne Säule winden. Zum ersten Mal lese ich die in Stein gemeisselten Lettern in Grossbuchstaben unter der schmalrandigen Kuppel: ALLGEMEINE PLAKATGESELLSCHAFT.

Dafür muss ich rund um den Miniobelisken herum laufen und weiss, dass ich von vielen Augenpaaren gemustert werde. Aber nicht wirklich beobachtet. So was wie mich sieht man hier täglich. Morgen kommt einer, der sich nur für die Gullis interessiert. Sonderbare Käuze gibt’s viele. Hauptsache, sie sind nicht gefährlich und tun niemandem weh.

Als ich den Platz verlasse, weiss ich: Wenn ich das nächste Mal wieder hier bin, ist alles wie heute.






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Prosaisch
und
Erdlinge


lass die Zeit tropfen statt fliessen

Lebendige Ruhe, in Stein gemeisselt

∞  20. Mai 2008, 22:42

Kürzlich, an einem Freitag der Stille, im Rieterpark


Ich bin den Hügel hoch gestiegen, die Gedanken voraus, zerstreut, als mich der Schatten der Bäume umfing und mir Kühle schenkte. Also blieb ich stehen, mein Atem beruhigte sich und langsam richtete ich mich auf. Meine Gedanken gingen vergessen, als ich das Spiel der wirbelnden Blattpunkte bemerkte, die sich als Schatten auf dem Asphalt vor mir ganz wild gebärdeten, als wollten sie mich schwindlig tanzen. In diesem Moment war ich wieder wie ein Kind, das seine Aufmerksamkeit der Rassel zuwendet, die vor seinem Gesicht geschwenkt wird. Die Zeit spielte keine Rolle mehr, ich suchte mir nur einen Punkt, ein Blatt aus und versuchte, ohne Aussicht auf Erfolg natürlich, diesen einen Punkt nicht mehr aus meiner Beobachtung zu lassen. Die kühle Luft im Schatten der Bäume strich über meinen schweissnassen Rücken, und während ich fühlte, wie sich mein Hemd vom Rücken löste, war mir, als würde das Rauschen in den Ästen stärker. Der Wind, der mich wie ein allgegenwärtiger Hauch umfing, schien von überall zu kommen und doch war er mir einfach ein Wunder, das ich nicht ergründen, nur geniessen wollte. Ich richtete meinen Blick nach vorn, und dann sah ich ihn: Den Mann, der da seit Jahrzehnten sitzen mag, in steinerner Ruhe, die kein Gedanke mehr stört. Reglos erschien er mir, aber nicht leblos, denn es war mir, als betrachtete er Dinge, die ich noch nie erkannt hatte. Ich wollte nicht stören, und es kam mir keineswegs absurd vor, genau jetzt und genau vor dieser Figur so zu denken. Ich wollte nur da bei ihm sitzen, diesem zentralen Punkt der Ruhe.

Doch es war nicht möglich. Er sass genau da, wo man an diesem Ort sitzen musste. Links und rechts von ihm war kein Gleichgewicht zu finden. Ich begriff, dass ich meine eigene ewige Lebendigkeit finden musste, die keine Bewegung mehr brauchen würde, meinen eigenen Mittelpunkt. Und seither hoffe ich, etwas von dieser Ruhe, die ich dabei ahnte, einzufangen und in eine Form meisseln zu können, die bei mir bleiben wird, wann immer ich den Schatten erkenne, der mir gespendet wird. Es gibt sie, die Momente, in denen wir ruhen können und dabei wissen, dass es keinen anderen Ort gibt, den wir erreichen müssten, als unsere eigene Mitte, die ohne Gedanken auskommt.

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[Bildquelle: : © Thinkabout, Bild anklicken für grössere Ansicht ]

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Abgelegt in den Themen Zeit und Leere und Vom Bild zum Wort


Neulich im Café Sprüngli

∞  4. April 2008, 00:08



Ich bin zu früh. Eigentlich bin ich es schon seit einer Stunde. Früher hätte ich fieberhaft überlegt, wie ich die Zeit jetzt füllen könnte und hätte aus der vielen Zeit eine knappe gemacht, um am Ende nur mit grösster Mühe zu spät zu kommen.
Nun aber sitze ich nach vielen leisen und schlendernden Schritten, vorbei an gestöpselten Ohren, an nervös im Gehen oder schon fast Laufen haspelnden Fingern und mit dem Nachhall von drei fremden Telefongesprächen im Ohr im Café Sprüngli am Paradeplatz.

Ich habe keine Zeitung, und es macht mich nicht nervös. Ich schaue mir den Trubel an und versuche, mich an das murrend murmelnde Grollen des nie abklingenden Geräuschpegels zu gewöhnen. Lemminge auf Futterstation. Seit dem Umbau ist das Publikum gemischter. Es gibt nun auch unter Fünfzigjährige mit dem quengelnden Drang nach etwas Nervennahrung.

Aber sie sind noch da, die Fregatten (etwas boshaft) jedes anständigen Tearooms, den es längst nicht mehr gibt. Sie leben noch, die älteren Damen (freundlich), die aber schwer tragen am Verlust des einst eigenen Terrains. Und so kommt sie denn auf mich zu, diese eine Vertreterin ihrer Gattung, die sich in meine Richtung verirrt hat. Denn ich sitze, strategisch ungünstig, weil eben gerade hier frei wurde, an einem Vierertischchen, wobei die kleinen Flächen kaum mehr Platz bieten als für vier anständige Kuchenteller (womit ich nicht sagen will, die Kuchenteller hier würden diesen Anspruch erfüllen), aber für meine kleinen Amaretti und den Espresso wird es schon reichen. Und für den meiner Kollegin natürlich auch. Sie vermisse ich jetzt schmerzlich, denn die Fregatte hat den Weg zu mir zurück gelegt und schaut mich prüfend an.
“Ist hier noch frei?”
“Im Moment schon noch. Allerdings erwarte ich noch jemandem zu einem netten Gespräch.”
Vielleicht versuche ich, dabei verschwörerisch zu wirken. Ich hätte es mir sparen können. Die zwei Einkaufstaschen landen auf dem Stuhl mir gegenüber, die Handtasche daneben. Ich fürchte schon, sie will sich neben mich setzen und später gleich auf meinen Schoss. Aber meine Furcht ist, natürlich, völlig unbegründet. Sie mag sich noch überhaupt nicht setzen. Zu schön muss es sein, wieder einmal auf einen Mann herunter sehen zu können, denn ich sitze eingekeilt zwischen Sitzkissen und Tischbein und beginne, mich ergebend in mein Schicksal zu fügen.

Und richtig:
“Dafür brauchen Sie ja wohl sicher nicht vier Stühle, oder?”
“Nein, aber zwei sollten es schon sein.”
Jetzt wird sie wütend. Aber mit dreissig Jahren Rückstand habe ich einfach nicht die notwendige Autorität. Da, sie will sich eben setzen, da steht ein älteres Paar am Eckfenster von einem runden, lauschigen Tischchen auf. Ich habe keine Chance, eingekeilt wie ich bin, aber ich feuere sie geradezu an, sich den Platz zu krallen.

“Schauen Sie da, der schönste Tisch im Lokal wird frei, Ihr verdienter Lohn für den ach so saumässig harten Tag, den Sie gehabt haben müssen”, oder so ähnlich. Sie steht da, mit hartem, durchgestrecktem Rücken, als hätte sie das Brett nicht vor dem Kopf sondern im Kreuz. Ich hätte sagen, ja rufen, ja drohen müssen: “Sonnst schnappe ICH ihnen den Platz weg.” Aber das besorgen natürlich andere. Längst ist der Tisch wieder besetzt. Das dauert hier durchschnittlich schlappe dreissig Sekunden, scheint mir. Ein mörderisches Tempo für alte Damen, zugegeben.

Nun sitzt sie also, aber sehr unruhig. Die Handtasche thront auf dem Tisch. Stimmt, da ist ja auch noch Platz. Nervös zupft sie sich imaginäre Fusseln vom Pullover, der sich über grotesk dünne Arme spannt. Ihre Augen sind klein und kalt und vergraben sich in ihrem Kopf, als müssten sie ihr Gift im Rückenmark alle dreissig Sekunden erneuern. Ich fühle mich mies und bin sogleich ein wenig traurig und bestrafe mich pflichtschuldigst für den boshaften Gedanken, ob sie in der Handtasche wohl ihr Tafelsilber mit sich rumträgt?

“Wird man hier auch bedient?” Seit dem sie sitzt, sind keine zwei Minuten vergangen.
“Und haben Sie etwa schon bestellt?”
“Ja, man wird hier sogar freundlich bedient und ja, ich habe schon bestellt.”
Ich fürchte zwar, dass ich für dieses unverdiente Glück, bereits auf den Espresso und nicht erst auf die Bestellung zu warten, sogleich bestraft werde, aber Mann hat ja Mut.
“Ist die unsere die Dicke da drüben?”
Zugegeben, die Kellnerinnen sind etwas gar gut genährt, ein bisschen Reklame und Mahnung für diesen Ort zugleich, aber ich sage es mit Überzeugung:
“Sie meinen die Dame mit den schwarzen Haaren da drüben? Sie ist sehr freundlich und wird gleich kommen.”

Das weiss ich, weil sie mein Espresso-Tablett mit den Amarettis über ein paar zusammen gesteckte Köpfe von Herren in dunklen Anzügen balanciert und zielsicher auf mich zusteuert.

Natürlich kommt jetzt, was kommen muss: Die Kellnerin in dem überfüllten Lokal würde gerne gleich die Bestellung des Gastes aufnehmen, der aber weiss noch gar nicht, was er bestellen will – und geht erst mal auf Toilette. Mit Handtasche aber ohne das Gepäck, immerhin.

Ich fühle mich allerdings nicht zum Wach-Wau-Wau verpflichtet und sehe meine Chance. Und sie kommt sogleich: Drei Tische weiter wird ein winziges Tischchen frei. Ja, es ist wunderbar winzig und verträgt wirklich nur zwei Personen. Und diesen winzigen Platz werde ich zu verteidigen wissen!
Ich wechsle die Fronten, begleitet von den mitfühlend verstehenden und – ich glaube zumindest – diskret zwinkernden Augen der Kellnerin. Und da kommt sie ja schon, meine Erlösung. Die Kollegin ist da, und im Nu habe ich nicht nur die Fregatte vergessen, sondern überhaupt alles und jeden, so gut unterhalten wir uns. Und werden Teil dieses Geräuschpegels, der allen zu gönnen ist, die in ihm gute Erfahrungen machen – oder Gesellschaftsstudien, die sie zumindest neutral bewerten können.

Bild: perlenkueche.ch

Begegnung mit einer alten Liebe

∞  5. März 2008, 12:00

Reloaded vom 6.11.04


Ich bin wieder zu Hause. Die Aussicht auf den Zwetschgenkuchen, den wir gestern gebacken haben, hat mich etwas früher aus meiner Jogging-Runde nach Hause zurückkehren lassen. Kleine Sünde, grosse Freude… Er ist soo herrlich saftig!!

Ich geniesse die behagliche Wärme der geheizten Wohnung, zufrieden mit meiner Welt.

Und ich denke an das Paar, das mir beim Laufen immer wieder begegnet ist, auch heute wieder:

Eine alte, freundliche Frau, die ihren Mann in einem Rollstuhl spazieren schiebt, jeden Tag, bei jedem Wetter. Sie spricht ständig mit ihm, lebhaft und voller Liebe.

Er aber redet nie, sagt keinen Ton, und sein Gesicht, das bis auf sein kantiges Kinn und einen harten, schmallippigen Mund hinter den dunklen Gläsern einer dicken Hornbrille versteckt ist, verrät keine Regung. Wahrscheinlich hat er eine Lähmung, denn er sitzt stets mit verkrampfter Haltung in seinem Rollstuhl, so, als hätte man seinen Körper zurecht biegen müssen, um ihn hinsetzen zu können.

Wie ich die beiden nach einem kurzen Gruss hinter mir zurücklasse, mit ausholenden Schritten weiter laufend, frage ich mich, ob mir dieser Mann nicht bittere Gedanken nachsenden mag? Auch wenn ich über meine Bestimmung für den morgigen Tag wenig weiss, so ist doch klar, dass unsere Lebenslinien an unterschiedlichen Krümmungen angelangt sind.

Das einzige aber was ich höre, ist die Stimme seiner Frau, die nicht müde wird, ihm weiter von allem Möglichen zu erzählen. Der Wind trägt mir ihre Stimme noch lange nach, als möchte er damit die Liebe dieser Frau ehren, die ihrem Mann jeden Atemhauch ihrer Kraft schenkt, Tag für Tag.

Thinkabout
6.11.04 17:25

In der Schreibkammer

∞  1. März 2008, 22:07

Er sass in seiner Schreibkammer, gelähmt, schon wieder, vom Gedanken:

Was, wenn ich meine Leser verlöre?

Oder erschlägt ihn die Antwort darauf, die klare:

Ich bliebe so allein wie jetzt.

Einsamkeit, also jenes Alleinsein, das er fürchtete, liess ihn ja erst schreiben.

Nein. Er wird nicht damit aufhören.
Weil auf dem Blatt Papier vor ihm das Dagegenschreiben ein Fürschreiben werden kann, ja muss: Für sich selbst und sich selbst genügend.
Mindestens als Anfang. Mag er auch bis zum Ende dauern.

Lauft, Gedanken, lauft

∞  20. Dezember 2007, 16:26

Ein Plädoyer fürs Joggen – und vielleicht der nachhaltige Vorsatz, nächstes Jahr endlich wieder damit zu beginnen…:
Text vom 24.10.04, abgelegt im Thema Reloaded *

Ich gehe aus dem Haus.
Ich überquere die Strasse, vorbei am Bushäuschen mit wartenden Menschen ohne Gesichtern, an deren Armen schwere Aktentaschen hängen.

Erst auf der leicht abfallenden Quartierstrasse beginne ich zu traben. Die dünne Laufhose wärmt meine Waden, die neuen Schuhe scheinen gut zu meinen Füssen zu passen.

Erst jetzt setze ich mir die Ziele für den heutigen Lauf.

Locker laufen. Schwerelosigkeit suchen.
Nicht die Runde, die ich kenne.
Keine Zeitvergleiche.

Blick ins Innere und voraus:
Neue Bilder, neue Wege.

Ich konzentriere mich auf meinen Schritt.
Nicht zu schnell angehen.
Die jungen Mieter im alternativ anmutenden Garten haben Gäste.
Laute Heavy Metal – Klänge schwappen über die Strasse.
Wenn’s die Nachbarn nicht stört, wie soll es mich dann stören?
Die gesellige Gemütlichkeit der jungen Menschen bringt mich vorwärts.
Mein Schritt ist locker.
Auf dem Fussballplatz staksen dünne Kinderbeine in dreckbehafteten Stollenschuhen zum Pausentee.
Blick voraus.
Ein Liebespaar vor mir. Mein Blick ruht auf ihren Jeans, die sich über ihrem knackigen Hintern spannen. Ihre Pumps sind unpassend für einen Spaziergang, aber sie vermag sich darin so zu bewegen, dass ich ihr für ihre Schuhwahl dankbar bin. Als ich sie überhole, gibt sie ihrem Partner einen übermütigen Klaps auf den Po. Ein fröhlicher Gruss der beiden muntert mich weiter auf.

Die Wollschweine pflügen den Acker immer noch um, die Rinderherde weidet wie gestern für die Ewigkeit. Dann kommen mir meine Nachbarn entgegen. Nun ist es meine Stimme, die glockenhell grüsst, als Antwort auf das starr nach unten klappende Kinn der beiden: Ausdruck sprachloser Unpersönlichkeit, die unser Verhältnis gar nie eine Beziehung werden lässt. Seit Jahren nicht.

Ich denke an die zwanzig Zigaretten, die er pro Tag raucht, und an ihr Übergewicht, und fühle mich gut.
Und laufe zu schnell.
Leichtes Stechen in der Seite.
So frühe Anzeichen einer Krise musst du sofort ernst nehmen, sonst ist die Reise jäh zu Ende.

Ich drossle das Tempo. Die nahe Hauptstrasse fordert es eh. Meine Füße tragen mich erneut auf freies Feld. Ich geniesse die Wärme. Joggen in kurzen Ärmeln Ende Oktober.

Die Strasse fällt leicht ab. Das Stechen schwindet. Jetzt Kies unter meinen Füssen. Herrchen und Frauchen überall. Heute haben alle ihre Hunde unter Kontrolle oder an der Leine. Ich kann ohne Unterbrechung laufen. Meine Schritte werden länger, aber nicht schneller. Ich möchte nun nicht anhalten. Das ist mein Tempo, scheinbar ohne zeitliches Limit, schwerelos. Geniesse es, solange es anhält.

Endlich im Wald.
Feldwege statt Teer unter den Füssen. Der Weg bereitet mir einen Teppich, auf dem ich geniesserisch laufe. Ich atme den Duft frisch gefallener Blätter ein, berausche mich am gelben Blätterwald – der Herbst kündigt seinen schönsten Tage an.
Feuchte Lebendigkeit unter meinen Sohlen – frischer Humus wird geboren.
Schmierig die Kurve, die Kreuzung. Noch nie da gewesen. Aufwärts oder abwärts?
Ich entscheide mich für den Aufstieg. Er ist giftiger als ich dachte. Die Strasse ist fest. Meine Sohlen finden guten Halt. Oben belohnt mich der Weg mit einer langen ebenen Strecke. Die etwas müde werdenden Beine nehmen einen lockeren Rhythmus auf. Ich bestimme die nächste Kreuzung zu meiner Wendemarke und staune auf dem Rückweg einmal mehr über die ganz andere Wahrnehmung des gleichen Weges, wenn man ihn in der Gegenrichtung geht, oder eben läuft.

Das neue Wohnquartier am Hang. Ich trabe in müden Trippelschritten gegen die geteerte Steigung an. Sie ist kurz, aber sie macht keine Freude. Gut, darf ich nach rechts abzweigen. Dicht geschütteter Kies macht den Schritt leichter.

Freundliche Menschen überall. Bis auf die Nachbarn eben. Aber vielleicht können es diese Menschen mir auch nicht recht machen. Sie haben den grossen Nachteil, dass ich sie kenne. Schlechte Voraussetzungen, um vor dem flüchtigen Blick eines keuchenden Joggers zu bestehen…

Ich überquere die Strasse. Teer unter den Füssen für den letzten Kilometer. Den kenne ich gut, und ich hasse ihn oft. Heute werde ich ihn fressen, ohne mich in anziehendes Tempo zu versteigern.

Komm, gib dem Weg recht. Passe deinen Schritt an. Teile deine Kraft ein. Geniesse das Tempo, das möglich ist. Dein Körper kann genug leisten. Mute ihm nicht noch mehr zu. Sei zufrieden und dankbar. Du bist schon lange nicht mehr so locker unterwegs gewesen.

Eine ganz andere Befriedigung, als wenn die Uhr und ein Zeitvergleich dafür nötig ist.

Ich vergleiche stattdessen Gefühle, Befindlichkeiten. Wie gefällt mir der Lauf, wie ist mein Gefühl dabei?

Schon bin ich angekommen. Daheim. Mehr als auch schon. Dafür haben 45 Minuten ausgereicht.
Ich bin schweissnass. Aber nicht erschöpft. Ich spüre meinen Körper.

Er ist mein Freund und kein Gegner, der überwunden werden muss.

Thinkabout

Noch heute kann ich jenen Lauf in Gedanken nochmals absolvieren, sind die Bilder genau jenes Tages noch präsent, obwohl alles eigentlich ohne äussere Besonderheit war.

Ein Nikolaus kommt nie zu früh

∞  15. Dezember 2007, 21:42

Eine Weihnachtsgeschichte


Der Zug hatte den Sackbahnhof längst wieder verlassen. Vom leeren Geleise wehte ihm ein beissender, kalter Luftzug ins Gesicht. Irritiert schaute sich der alte Mann um. War er wirklich am richtigen Ort ausgestiegen?

Alles war anders als letztes Jahr. Sie hatten also Ernst gemacht und den alten Bahnsteig abgerissen. An Stelle der rostigen Eisenträger war ein gläsernes Kuppeldach getreten, das von mächtigen Pfeilern aus Sichtbeton gestützt wurde.

„Wann wird der Mensch aufhören, für die Ewigkeit bauen zu wollen?“ fragte sich der alte Mann, während seine schmerzenden Gelenke knackten. Er wünschte sich manchmal, dies könnte mal ein Ende haben, und im gleichen Atemzug schämte er sich für seinen Gedanken.

Er packte seine zwei grossen unförmigen Säcke aus grobem Leinen auf einen herrenlosen, verlassenen Einkaufswagen und machte sich auf den Weg zur Eingangshalle, wo sich Ankommende und Abreisende ständig durchmischten. Er hatte keine Eile.
Sie hatten ihm von der Agentur gesagt, sie würden ihn dieses Jahr nicht buchen. Schon Halloween war ein Reinfall gewesen. Alle diese Traditionen wären, egal ob aus Amerika importiert oder in der eigenen Kultur alt und grau geworden, einfach nicht mehr im Mainstream, „irgendwie ausgelutscht eben, wissen Sie“.
Der Alte brauchte einen Moment, bis er den Sinn dieser Worte erfasst hatte. Da es aber zu den Grundeigenschaften dieses Greises gehörte, dass ihm nichts Neues fremd sein konnte, verstand er die flapsigen Worte sehr wohl.

Die Hochnäsigkeit, die Arroganz der Überheblichkeit hatte den immer gleichen Ton, den er auch ohne Worte verstanden hätte. Ein schrilles und doch nuschelndes Zirren in der Luft, bevor sich die Laute ins Nichts verflüchtigten. So belanglos wie lieblos kamen und gingen sie, diese Töne.

Nun, unserem alten Mann konnte zwar nichts wirklich neu erscheinen, aber er ließ sich auch nicht zwingen, mit den immer wiederkehrenden Marotten der Menschen gleichgültig vertraut zu werden, und so war es gerade dieser junge Mensch, der den Nikolaus veranlasste, auch ohne Auftrag in die Stadt zu kommen, und zwar sofort, zwei Wochen zu früh und in Zivil.

“Dann komme ich eben als Freelancer”, nahm er sich spöttisch selbst hoch, und während er seinen Einkaufswagen dem Kopfende des Bahnsteigs entgegen schob, staunte er über das neue Gefühl, zur falschen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Er war im Weg. Demonstrativ seufzend balancierten die Menschen ihre Koffer an seiner Fuhre vorbei oder sie hetzten mit ausgreifenden Schritten an ihm vorüber. Sie hatten nicht, was er als einziges vor sich fand. Viel Zeit. Und keine Aufgabe.

Er wusste nicht mal, wo er hin sollte. Normalerweise organisierte ihm die Agentur eine einfache Unterkunft. Aber da wollte er gar nicht hin. Er war ja offiziell gar nicht da.

Also tat er, was er zu Hause auch getan hätte. Er setzte sich am Rand der Haupthalle auf den Boden, zog eine Pfeife aus der umgehängten Brusttasche und stopfte sie. Dabei blieb die Zeit nicht stehen, aber er hörte eine ganze Weile gar nichts. Nicht mal die Ansagen über Lautsprecher, die sich im Minutentakt folgten und ankommende und abfahrende Züge ankündigten. Es schien nichts Bedeutenderes für ihn zu geben, als diese Pfeife, und wer ihn wirklich bewusst beobachtet hätte, wäre sich ganz sicher geworden, dass es tatsächlich in der ganzen Halle nichts Wichtigeres zu tun gab.

Als der Nikolaus aufblickte, schaute er direkt in die wachen und grossen Augen eines kleinen Jungen, der ihn aufmerksam musterte. Das passierte dem Nikolaus oft, weshalb er keinen Grund gehabt hätte, irritiert zu sein. Wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass er seine Robe nicht trug, sondern eine warme, ausgebeulte und gefütterte Jacke und Hosen aus schwerem, abgewetztem Stoff. Zudem war der Knabe nicht einfach stehen geblieben, sondern hatte sich vor ihm auf den Boden gesetzt.

Während der kleine Junge also seine Augen über das Gepäck und den Einkaufswagen wandern ließ und dabei immer klarer Bescheid zu wissen schien, was er von diesem alten Mann zu halten hatte, durchströmte den Nikolaus dieses immer wiederkehrende Gefühl, das sich immer dann meldete, wenn er Kinder wie diesen kleinen Kerl vor sich sah: Eine tiefe, wohlwollende Liebe, die er dem Jungen am liebsten wie einen schützenden Mantel für alle Zeiten umlegen wollte. Er lächelte den kleinen Wuschelkopf an und zwei dunkle Augenpaare aus verschiedenen Zeiten versanken in einander.

„Na, kleiner Freund. Du scheinst der einzige hier zu sein, der auch etwas Zeit hat.“
„Ich muss. – Vater hat noch zu arbeiten.“
Die Kopfbewegung ist nur angedeutet, aber der alte Mann sieht den Vater sofort. Ein schlanker, fast hagerer Mann mit etwas zu schütterem Haar für sein Alter, der mit einem Handy am Ohr auf und ab geht und sich dabei unablässig mit der Hand durch eben dieses Haar streicht.
Der Nikolaus sagte nichts. Eine Weile schauten sie beide dem Vater zu, dann begegneten sich ihre Blicke erneut.
„Was hat er Dir denn versprochen?“

Väter versprachen immer Dinge, die sie dann nicht halten konnten, und das hielt sie auf Trab. Im Geschäft genau so wie gegenüber ihren Kindern.
„Dass wir einkaufen gehen. Weihnachtsgeschenke. Und Mutter hat auch Geburtstag.“
Der letzte Satz klang traurig, und das machte dem alten Mann erst richtigen Kummer.
„Was möchtest Du jetzt spielen? Fussball?“
„Hier?“
Nun, zufällig habe ich was dabei. Der alte Mann stöberte umständlich in einem seiner groben Leinensäcke, bevor er laut sich räuspernd, aber strahlend einen Fussball in die Hand zauberte.

Mit grossen Augen fixierte der Junge das glänzende Leder.
„Jongliere mal für mich. Ich weiß, das kannst Du gut!“
Schon flog der Ball durch die Luft, so dass der Junge gerade Zeit hatte, auf die Beine zu kommen, um den Ball elegant mit dem Spann abtropfen lassen zu können. Und dann war er nicht mehr zu halten. Links, rechts sprang die Kugel vom Knie zum Kopf, an die Schulter und wieder zurück, Nikolaus klatschte vergnügt in die Hände, zählte laut und immer lauter jede sich folgende Ballberührung und vergass alle schmerzenden Gelenke. Und dann zählten sie mit, die Menschen rundum, blieben stehen und klatschten, und die Wangen des Jungen glühten und seine Augen glänzten. Er sah nichts und hörte nichts, war nur beim Ball und in seiner Selbstvergessenheit das reine ansteckende Glück. Bis Vater kam. Er wollte dazwischen fahren, den Jungen weg zerren, doch er wurde von einem Passanten daran gehindert.
„Lassen Sie ihn doch!“

Der Vater sah den etwas schäbig gekleideten Alten am Boden sitzen, daneben seinen sich produzierenden Jungen mit schwitzendem Gesicht, und er fühlte Scham ob dieser Situation, die für ihn einfach unmöglich war. Aber etwas im Blick des alten Mannes am Boden ließ ihn auf den Passanten hören. Er hielt inne und sah seinem Jungen zu, und er sah Dinge an ihm und in ihm, die er noch nie gesehen hatte. Und immer wieder trafen sich seine Blicke mit diesem Mann, der ihn in einer Weise anlächelte, die ihm unheimlich und gleichzeit vertraut war. Es war etwas ungemein Väterliches in dieser Wärme. Er schaute wieder auf seinen Sohn und spürte, wie sehr er seinen Jungen liebte. In diesem Moment spielte sein Sohn den Ball in hohem Bogen dem alten Mann direkt in die Arme. Die Menschen ströhmten auseinander, ein Lachen im Gesicht.

Der alte Mann stand auf und bewegte sich dabei erstaunlich behende, als hätte er Angst, seine neuen Bekannten könnten ihm entwischen.
„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte mich nicht aufdrängen. Aber Ihr Junge war so freundlich zu mir.“
„Schon gut“, stotterte der hagere Mann und fuhr sich wieder mit fahriger Hand durchs Haar.
Der Alte gab ihm den Ball in die Hand.
„Würden Sie mir eine Freude machen? Ich möchte den Ball Ihrem Jungen schenken. Ich alter Mann kann damit nichts anfangen. Aber ich bin so oft, wie ich es sein kann, im Fussballclub der Stadt. Und ich bin es nur, weil mir dort das Herz aufgeht, wenn ich Jungs wie den Ihren da spielen und sich austoben sehe. Sie glauben gar nicht, was man da fürs Leben lernen kann. Und das auch noch mit Freude. Herrrrrschaft, wenn ich einmal jung wäre, ich würde nichts anderes kennen!“
Und das sagte der alte Mann so gemütlich knurrend und mit einer drolligen Ausholbewegung des rechten Beines, dabei einen imaginären Ball ins Tor befördernd, dass alle Drei befreit und hemmungslos lachen mussten.

Zum ersten Mal seit Jahren überlegte der Vater nichts, bevor er etwas sagte, und konnte doch gleichzeitig nicht schweigen:
„Dürfen wir Sie zum Abendessen zu uns nach Hause einladen?“ Sein Blick wanderte über die Fuhre, aber die sonst üblichen Gedanken folgten nicht und bremsten ihn nicht…
„Nein, das ist nicht nötig. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag.“
„Ja?“
„Als ich noch jünger war, war ich manchmal als Nikolaus unterwegs. Tempi passati“, sagte er seufzend und verscheuchte mit der rechten Hand eine imaginäre Fliege.
„Ich würde Sie gerne als Nikolaus besuchen, am 6. Dezember. Ihr Junge hat mir erzählt, dass seine Mutter dann Geburtstag hat. Wie wäre es, Ihrer Frau mit dem Nikolaus eine Freude zu machen? Sie mögen nicht an mich glauben, aber lassen Sie sich doch überraschen. Und vor allem Ihre Frau. Das wäre doch ein Geburtstagsgeschenk, irgendwie, nicht? Ich bringe auch keinen zweiten Fussball mit.“

Der Vater lachte und willigte ein, und das Strahlen des Jungen forderte dem alten Mann alle Beherrschung ab, dass er nicht sogleich einen halben Meter vom Boden abhob. Das ziemte sich einfach nicht für den Nikolaus. Er verabschiedete sich freundlich und war alsbald verschwunden.

Auf dem Heimweg hatte der Vater eine gewisse Mühe, die Ereignisse zu verarbeiten und drehte den Ball gedankenverloren von einer Hand in die andere. Der alte Mann hatte sich seine Adresse nicht aufgeschrieben. Warum zweifelte er trotzdem nicht daran, dass er am sechsten Dezember Besuch bekommen würde?

Er drückte seinem Jungen den Ball an die Brust und sagte:
„Also gut, mein Junge. Du darfst dem Fussballclub beitreten. Das willst Du ja schon seit Jahren, wie ich sehr wohl weiß.“

Seinen Buben so glücklich zu sehen, war ein tolles Gefühl. Und dann dachte er an seine Frau. Er würde ein besonderes Geburtstagsgeschenk für Sie finden. Alles wollte er dann doch nicht dem Nikolaus überlassen.

© Thinkabout, 20. November 2006



Falscher Ärger

∞  31. Mai 2007, 17:06

Es regnet. Stau auf allen Strassen. Die Zeit wird knapp. Ich fühle Druck. Baustellen in den Quartierstrassen. Wann sehe ich auch mal einen Bauarbeiter?

Endlich ist das Büro nah. Vor mir schleicht ein alter Nissan über die Kreuzung. Und was macht er? Setzt sich links aufs Trottoir, unmittelbar vor mir, und genau da, wo ich in den Hinterhof fahren will. Wieder so einer, der wild im Quartier parkt, direkt auf dem Gehsteig, ohne jeden Blick für Andere, hemmungs- und rücksichtslos.

Ich hupe und verwerfe die Hände.
Ein alter Mann steigt aus, fuchtelt erregt mit einer knochigen Hand
.
Erst jetzt nehme ich die alte Frau wahr, die mit eingezogenen Schultern verloren im Regen an der Hauswand steht und jetzt von ihrem Mann an der Hand genommen wird. Langsam zittert sie sich mit unsicherem Schritt über die rutschigen Pflastersteine, die spiegelglatt regennass glänzen. Ihr Mann stützt sie, so gut er es selbst noch vermag und wie er es jeden neuen Tag, in jeder Situation erneut versuchen wird.

So schnell bin ich selbst zum Rücksichtslosen geworden. Was ist mein Stress im Vergleich mit der Energie, die altersschwache Menschen wie diese Frau tagtäglich finden müssen, um ihre täglichen Bedürfnisse zu decken? Mein Hupen von eben – ich versuche es durch eine entschuldigende Handbewegung abzuschwächen. Der Alte winkt, steigt mit gekrümmtem Rücken ein und fährt weg.

Ich danke ihm still für die versöhnliche Geste und lenke mein Auto mit etwas mehr Gelassenheit auf den Parkplatz.

Was war noch mal so wichtig, dass ich so in Eile war?

Thinkabout
27.10.04
Leicht redigiert am 31.05.07


Ohne Ring und ohne Halt

∞  27. März 2007, 19:10

© Thinkabout – 3. März 2005

Es war ganz selbstverständlich für ihn, den Ehering nie abzulegen. Fangeisen hatte sein Vater dieses Symbol der Gemeinsamkeit einmal genannt – und dennoch zeitlebens ebenso gehandelt. Manchmal drehte er ihn gedankenverloren zwischen schweißnassen Fingern, wenn er nervös war. Jetzt war er sehr nervös – denn der Ring war verschwunden.

Er hatte dem Drängen seiner Kollegen nachgegeben und war mit ihnen in die Bar gegangen, hatte den Ring beim Eintreten verstohlen abgestreift und in die Hosentasche gleiten lassen. Warum nur?

Wollte er interessant sein für die Bardame, jung sein unter Junggesellen?

Nun stieß sein Ringfinger immer wieder zwanghaft durch das Loch in seiner Hosentasche, während er nach Hause trottete. Der Ring war verloren. Er fühlte sich für eine Lappalie übermäßig bestraft und haderte mit der Ungerechtigkeit und seiner Ungeschicklichkeit, und er schämte sich für seine Eitelkeit, in der er sehr wohl die Beleidigung seiner Frau erkannte. Die begrüßte ihn freundlich wie immer und erkundigte sich, wie die Sitzung verlaufen sei? Dann wolle sie ihm jetzt noch einen Happen zu Essen richten, das sei kein Problem.

Ihr fiel nicht auf, dass er seine linke Hand unter den Tisch schob, aber er versteifte sich ja auch erst, als er bemerkte, dass auch ihr Ringfinger leer war. Und er fragte sich warum und wie lange, und die Tatsache, dass dies schon unendlich lange so sein konnte, ohne dass er es bemerkt hätte, war allein schon Grund genug, keine Fragen zu stellen.

Die Fragen trug er stattdessen vor den Fernseher, wo er sich die Nachrichten anschaute, ohne sie wirklich aufzunehmen. Dies war nicht neu. Neu war der Schmerz, mit dem ihm auch das bewusst wurde.

Er blieb sitzen, denn er hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte.

Döbeli (fast) allein zu Haus

∞  27. März 2007, 17:57

© Thinkabout, 6. Okt. 06

Der Herr Döbeli hatte viel zu tun. Der kleine Köbeli wollte das nicht verstehen. Papi hatte immer viel zu tun. Für den Kleinen war das eine Art Krankheit. Es konnte doch nichts Schöneres geben als seinen Lego-Bagger, und es stellte sich doch kein wichtigeres Problem als das Kaffeepulver, das nun doch partout mit eben diesem Bagger vom Sack in die Vorratsdose umgefüllt werden musste. Aber Papi hatte keinen Nerv dafür. Er schaute gar nicht hin.
Er wünschte sich, seine Frau käme wieder nach Hause, damit er ins Büro verschwinden konnte. Hier liess sich so schwer arbeiten. Die Konzentration…

Während dessen genoss Frau Döbeli ihren Einkaufsbummel. Sie wusste, dass ihr Mann gerade justament jetzt seinem neulichen innerehelichen Vortrag über
„das wohl überlegte Zeitmanagement eines erfolgreichen Kadermitglieds und dessen Anwendbarkeit auf Hausarbeit und Kindererziehung“
eine praktische Anwendung eben dieser Führungsqualitäten folgen liess. Das erlaubte ihr, trotz vollen Tragetaschen frohgemut genau in dem Moment die nächste Boutique zu betreten, in dem ihr erfolgreicher Mann zu Hause fern jeden Organisationsprinzips aber von einem urwüchsigen Instinkt beseelt den Kopf hob:

Döbeli hatte schon lange keine Zeit mehr für Sport, und so staunte er selbst, wie schnell seine Muskeln den Befehl seines Hirns umzusetzen versuchten: Hochschnellen und sich seitwärts strecken, um den Kaffeebeutel im Flug zu fangen, bevor er auf dem dicken weissen Teppich aufschlug… Aber er war nicht schnell genug. Döbeli hatte genau genommen keine Chance. Auch Köbeli hatte längst schon vergessen, welcher Spass es gewesen war, seinem Vater unbemerkt die Schnürsenkel zusammen zu binden. Wie in Zeitlupe sah er seinen Vater auf den Bauch fallen, wobei dieser den restlichen Kaffee mit einer rudernden Armbewegung über den Boden schleuderte. Sein Handy folgte ihm in hohem Bogen, prallte von Döbelis Hinterkopf ab, was diesen aufheulen liess, um gleich darauf zu klingeln. Dass der Gefangenenchor von Nabucco jetzt doch ziemlich zynisch war als Klingelzeichen, war Köbeli nicht bewusst… Er drückte auf die Empfängertaste und sprach ganz ernst ins Telefon, sein Vater, der Herr Direktor Döbeli, hätte jetzt leider keine Zeit…

Mein Name?

∞  19. März 2007, 21:33

Sie haben es aufgegeben – vorerst. Der Polizist vom Dienst hat seine Sache eigentlich ganz gut gemacht. Er ist bewundernswert freundlich geblieben, wenn man bedenkt, dass meine Antworten so gar nicht zu den Formularen gepasst haben, die er doch ausfüllen musste.

Jetzt bin ich da, in einer Zelle von vier auf zweieinhalb Meter. Ich habe sie ausgemessen, so genau es möglich war.

Beton umgibt mich. Kahle Wände. Ein langer Quader an der einen Längswand, hinbetoniert für die Ewigkeit. Ich sitze drauf. Mein Hintern fühlt durch die dünne Schaumgummimatratze die Härte des Zements. Schlimmer aber ist der Chromstahl. Das Waschbecken, und vor allem das Klo glänzen, wie wenn sie mit Stahlwatte jeden Tag nachpoliert würden. Stahlwatte würde hier hinpassen, unbedingt.

Das Klo hat keinen Deckel. Stelle ich mir deshalb vor, mit dem Wasser hinweg gespült zu werden, egal wohin, egal womit? Ich bin aber entschlossen zu bleiben. Und die Wahrheit zu sagen: Dass ich nicht weiß, wer ich bin. Ich habe mir lange genug etwas vorgemacht.

Was sagt das schon aus, einen Namen zu haben, einen Job, eine Frau, eine Familie? Bin ich, was ich scheine? Was ich darstelle? Was ich heiße? Ich habe mir meinen Namen nicht gegeben. Ich fühle mich ihm nicht länger verpflichtet. Also sage ich, dass ich nicht weiß, wie ich wirklich heiße.

Der Polizist nannte mich renitent! Nein, ich war und bin nur ehrlich. Ich versuchte, es ihm zu erklären. Ich staune immer noch, wie ruhig ich dabei blieb, obwohl er mich nur verständnislos über seine halb blinden Brillengläser anstarrte, die Hände über der Tastatur gekrümmt, bereit, jeden Namen einzutragen, den ich ihm noch so gleichgültig genannt hätte.

Ich fühle mich leer und deswegen auch hier nicht unbedingt am falschen Platz, in dieser Zelle, in die sie mich gebracht haben, damit ich zur Besinnung kommen möge. Was sagt man dazu?

Auf jeden Fall sagt mir jeder Quadratzentimeter dieses Bunkers, dass er gegen und nicht für mich gebaut worden ist. Ich sitze auf der Matratze, spüre meinen Hintern kalt werden und warte, dass mich die Dunkelheit und Leere anspringt, wie ein schwarzer Panther, der sich auf seine Beute stürzt. Ich will mich endlich spüren, mich erleben, etwas fühlen.

Kahle Wände, glatt und abweisend wie Teflon. Hierher verirrt sich kein Gefühl. Ich schaue in den Spiegel aus bruchsicherem Glas und sehe mich nicht. Ich könnte auch die Wand neben dem Spiegel anstarren, so unbeteiligt lässt mich das Bild an der Wand.

Endlich drücke die Spülung der Toilette und sehe zu, wie das Wasser mit gurgelndem Geräusch in einem Strudel in die Tiefe gezogen wird. Ich stelle mir vor, dass gleich Nachbars Katze an die Oberfläche gespült wird, mit tropfnassem Fell und verwaschenen, bernsteinfarbenen wissenden Augen, die Unergründliches denken.

Ich könnte hingehen, zum Nachbarn, und ihm sagen, wer seine Katze ersäuft hat. Er würde mir so wenig glauben wie der Polizist im Büro vor meiner Zelle. Und so sitze ich hier wegen meiner Ehrlichkeit, die die Ordnung stört, und nicht wegen meiner Tat, die mir niemand glauben würde – jetzt erst recht nicht mehr.

Ich warte also auf meine Frau, die kopfschüttelnd meinen Pass vorlegen und mich rausholen wird. Sie wird sich für uns beide schämen und sich beim Ordnungshüter entschuldigen und alles daran setzen, dass meine peinliche und lächerliche Eskapade bei genau diesem Nachbarn nicht bekannt wird.

Aber sie wird nicht tun, was nahe liegend wäre: Sie wird mich nicht fragen, was ich mir dabei gedacht habe? Sie hat eigentlich nie Fragen, aber immer schnelle Antworten, die für sie lebbar sind. Was auch immer sie darunter verstehen mag.

Und für die Kinder ist es wichtig, dass der Papa heimkommt und sich einkriegt. Darum geht es vor allem und unter allen Umständen.

Ich weiß nicht, ob ich dafür bin, dass unsere Nachbarn sich wieder eine Katze anschaffen. Es sind irgendwie unergründliche Tiere. Vielleicht haben sie plötzlich einen Hund. Hunde sind treuherzig, gefühlsbetont und haben echtes Vertrauen. Bei einem Hund hätte ich größere Schwierigkeiten. Ich verstehe zwar nicht, wie man sich so treuherzig auf Menschen verlassen kann, aber irgendwie verdient so viel Naivität meinen Respekt und weckt eine Art Wehmut in mir. Wenn sie einen Hund anschaffen, so nehme ich mir vor, mache ich weiter wie bisher und was bisher: Nichts.


© Thinkabout (vom Mai 2000, leichte Überarbeitung März 2007)

Die Liebe jenseits aller Grenzen

∞  10. März 2007, 16:56

Erzählung von Beobachtungen auf meiner inneren Reise

Fühlen Sie manchmal auch eine “Leere in sich aufsteigen”?

Die Leere, die Sie, die mich leiden lässt, bedrohlich wirkt, vermieden werden soll, hat im Grunde nichts Stilles. Im Grunde brüllt sie. Ich will ihr entfliehen oder sie verscheuchen.

Ich spiele Musik ab, ich schreibe sie nieder. Doch was in dieser Leere schreit, ist mein blossgelegter innerer Lärm, in dem ich gefangen bin, weil ich mir dahinter keinen tragfähigen Boden vorstellen kann. Wenn dieser mein Lärm zu hallen beginnt, die Leere also spürbar wird, dann ist es ganz normal, dass wir es erst einmal mit der Angst zu tun bekommen.

Ich vermutete lange hinter meinen eigenen Umtrieben ein gefährliches Loch. Ich ging dagegen an – nicht zuletzt, in dem ich mir Leistungsziele setzte. Wahrscheinlich „half“ mir meine Erziehung dabei sogar in fataler Weise: Mein Pflichtgefühl hielt mich auf Trab, auch wenn ich ohne inneren Antrieb war. Ich definierte mir selbst meine Leistungen, ja schrieb sie mir vor, um dann darauf zu warten, dass ich mir selbst meine Bedeutung bestätigen könnte – im Urteil der anderen. Ich wollte ein nützlicher, erfolgreicher, wertvoller Mensch sein.

Heute definiere ich erfolgreiches Menschsein ganz anders. Menschlich zu sein, bedeutet eine Art Versöhnung mit dem Ursprung meiner Unruhe – denn nichts anderes trieb mich ja an.

Die meisten Menschen, die ein wirklich intensives und bewusstes Leben führen, in dem nicht der materielle Erfolg oder eine messbare Leistung im Vordergrund steht, haben eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Tod immer wieder vor Augen. Und damit mit einer Stille, die schon immer da war. Ich glaube nicht, dass sie bedrohlich sein muss. Sein will. Sie steht vielmehr an unserem Ursprung und kann in einer ausgehaltenen Leere sogar Heimat sein:
Ich fühle, dass unsere Seele dazu einen Zugang hat. Es ist eine Leere, die dazu animiert, das Denken aufzugeben…

In der Meditation heißt eine immer wiederkehrende Übung:

Die Gedanken kommen und gehen lassen. Ihnen nicht „nachhängen“. Sie loslassen. Und „da“ bleiben. Ich stelle mir diese Gedanken wie Schwingungen vor, oder Wellen, die wie Düfte kommen, wahr genommen werden von mir, und wieder gehen.

Sie beeinflussen meine Wahrnehmung, ich weiss, aber sie sind im Grunde flüchtig. Sie können mich nicht gefangen nehmen, wenn ich es nicht zulasse. Das, was ich gemeinhin an und in mir selbst am Deutlichsten wahrnehme, ist von seinem Wesen her sehr flüchtig… Da ist es doch nur gut, sie nicht einfangen, zurückhalten zu wollen, nicht wahr?

Wie wäre es doch manchmal schön, gewisse Gedanken nicht immer wieder wälzen zu müssen! Wie, wenn ich einen solchen quälenden Gedanken nicht „auflösen“, bewältigen müsste, sondern ihn einfach „sein lassen“ könnte, ziehen lassen. Er muss mich nicht umtreiben. Es ist nur ein Gedanke, flüchtig wie ein Duft.

Ich glaube, dass wir in unseren meisten Aktionen auf unsere innere Unruhe re-agieren, statt dass wir uns nach unserem tieferen Ursprung verhalten und danach handeln. Ich fühle, dass der wirkliche Halt für alles, was wir von uns und der Welt sehen, das Sitzen in dieser Leere ist, die von uns nichts fordert als… ein freies Atmen.

Aber unser Geist ist widerspenstig. Er will sich nicht so leicht befrieden lassen. Wir können in ihm gefangen sein. Ihn zu beherrschen, ist so schwierig, wie den Wind einzufangen.

Hier setzt die Meditation an, und darin liegt ihre Faszination: Sie hilft uns, unsere Gedanken zu ordnen, ruhen zu lassen, und sie kann helfen, uns unserer Bestimmung zu öffnen und mit dem gleichen Geist nach unserem Ursprung, nach unserem Warum zu fragen. Nach Gott.

Die geahnte und geübte Leere ist eine Stille, die ich begrüße und suche, weil ich erkenne, wie schön es ist, in ihr meine Gedanken ruhen lassen zu können. Sie ist wirklich leise – aber in einer befreienden, entspannenden Weise. Es ist eine Leere, die jede Langeweile überwunden hat, die keinen zwanghaften Umtrieb kennt, kein Gestaltenmüssen.

Ein Nichts, das sich neu füllt und doch seine Weite behält, durchlässig wie eine Lunge, mit jedem Atemzug. Ganz natürlich und ohne mein weiteres Zutun. Ohne daraus eine neue Aufregung zu machen. Ich bin einfach und erlebe das Geschenk meines Seins so, wie der Körper den von mir eingeatmeten Sauerstoff begrüsst und ganz selbstverständlich nützt.

Mit meinem Schaffen ist es ähnlich: Gelingt mir einmal ein Text wirklich, so sitze ich staunend davor und frage mich, wo er herkommt? Tatsächlich aus mir? Ich begegne selbst dem von mir Geschriebenen. Es ist aus mir heraus getreten. Mich begleitet die Ahnung, dass das neu Gesehene, Vorliegende, schon da war, sich nur neu zeigt. Es schlummerte in mir, ruhte, versteckte sich vielleicht. Und öffnet mir jetzt ein Fenster zu einem IST, das weder alt noch jung ist. Zeitlos wahr, formuliert oder gestaltet gemäss meiner momentanen Fähigkeit zur Wahrnehmungstiefe.

Meine innerste Energie, das Tanken von Kraft und innerer Gewissheit ist eine Art sich ausbreitende heitere Gelassenheit, die so begehrenswert wird, dass ich verweilen kann in der Stille.

Nicht jedem Menschen ist diese leere Stille nah. Manche müssen von sehr weit her kommen, und die dunklen Löcher, die sie fühlen, liegen wie bodenlose Endlosigkeiten über diesem allertiefsten Grund.

Ich glaube aber, dass hinter allen Schmerzen und Sehnsüchten nach Ruhe und Einkehr und hinter dem lautesten Schrei danach diese tragende Leere erreichbar bleibt – weil sie dem Menschen, dem fühlenden Wesen, nicht ausgetrieben werden kann. Sie ist der Kern seiner Erinnerung, seines Wesens, der immer da ist.

Alles andere, darüber liegende, wirkt vielleicht verdeckend, bedrohlich, fortreissend oder zwanghaft niederziehend.

Unter den alles tragenden Grund aber vermag nichts mich zu reissen und genau so kann mich nichts endgültig von der wieder herstellbaren Haftung in meinem Selbst fern halten.

Ich kann von meinem Ursprung, von meinem tiefsten Sinn durch nichts wirklich getrennt werden. Ich kann vielmehr immer heimkehren. Es kann mir sehr schwer gemacht werden, mich meiner zu erinnern. Aber es kann mir nie für alle Zeiten unmöglich sein.

Meine beste Zeugin und Botschafterin ist die Liebe. Sie ist nie auszurotten. Sie kann austrocknen. Enttäuscht werden. Sich zurück ziehen. Nie aber ist sie zu töten, für immer weg zu denken. Da versteckt sich für jedes Leben eine Kraft, die unverhofft berühren und wachsen kann. Kein Mensch vermag auf alle Zeit voraus zu sagen, dass ihm diese Liebe nicht widerfahren könnte. Sie springt an, unverhofft oder ersehnt. Sie giesst sich aus über uns oder verheisst sich unserem Sehnen. Immer wieder zündet sie selbst dem Trostlosen die brennende Verheissung an, dass da ein Leben wäre, das gefeiert werden sollte, bejaht und verschenkt, angenommen und gestaltet.

Und wie vielfältig sie sich zeigen kann, diese Liebe. Wie jung und schwärmerisch sie sein kann, wie verschwenderisch, poetisch, masslos, uferlos. Und wie abgeklärt und gütig sie werden kann, in ihrer Fähigkeit zur Sanftmut und Dankbarkeit, in ihrer Sicherheit, das Gute zu wollen und zu fördern, in ihrem Willen, der Wärme Lebenskraft sein zu wollen.

Wenn sich die Liebe zur Güte wandelt, sie keinen Vertrag einfordert sondern gibt, weil sie liebenden Herzens ist, wenn sie getragen wird vom Gespür für die tragende Kraft der eigenen Schöpfung, und wenn sie so in mir wohnt, dann sende ich sie aus als schönste Waffe, die mir menschlichem, erschaffenem und fühlendem Wesen geschenkt worden ist.

Wenn Liebe geahnte Schöpfung ist, tiefste, innerste Wahrheit, dann fürchte ich kein Dunkel, kein Nichts, keine Leere. Dann brauche ich gar die Stille, um mich immer wieder neu von dieser Kraft durchdringen zu lassen, die mein Leben wollte und meinen Tod begleiten wird.

Meine Vorstellung von dieser Zeit, in der ich mein Leben lebe, ist dabei genau so begrenzt wie die Tiefe meiner Erinnerungen und meiner Wahrnehmung, meines Bewusstseins.

Die Erfahrung von Leere, von einem Zustand, in dem die Gedanken zu nichts mehr zwingen, keine Unruhe mehr erzeugen, kann mein Zeitempfinden weiten. Ich kann mich mit der Zeit versöhnen, mich aus meinem gewohnten Bild begrenzten Raumes lösen. Ruhen. Und daraus heraus leben. Wirklicher als zuvor.

Wo mögen die Grenzen jenseits meiner Vorstellung liegen?

Iguazu-Wasserfälle, hautnah

Die Liebe die ich beschreibe, hat mich in den letzten Stunden keine Schmerzen fühlen lassen… Mehr „Beweis“ brauche ich nicht dafür, dass ich mich trösten lassen kann, dass mein Dasein, mein Kommen und Gehen von einem Plan bestimmt ist, der nicht durch mich selbst gestaltet wird. Denn es ist gut, diese Last nicht tragen zu müssen und sie durch die neugierige Frage zu ersetzen: Wer darf ich sein?

Eine Art Innehalten

∞  27. Februar 2007, 17:26

Erdling fährt seine Mutter nach Hause. Schön war der Abend. Er fährt den weiteren Weg, weil er weiss, dass es ihr auf der schmalen, steilen Strasse nicht geheuer ist, da kann er so vorsichtig fahren, wie er will. Früher hätte er sich nicht um ihre Angst geschert, sondern jedem Gasstoss am Hang noch den stummen Protest gegen ihr fehlendes Vertrauen mitgegeben: Mit heimlich-stummem und doch lautem und entsprechend boshaftem Vergnügen.
Wie kindisch war er doch, dieser stille kalte Krieg.

Die Bahnschranke geht nieder. Sie stehen wie verloren im Dunkeln an der Stopp-Strasse. Erdling stellt den Motor ab. Schwere Regentropfen fallen dumpf aufs Dach, lassen die Lichter der Strassenlaternen auf der Frontscheibe zerplatzen und dann zerfliessen.
Im Rückspiegel sieht Erdling ein Auto hinter ihm halten. Der Fahrer legt in einer langsamen Bewegung die gefalteten Hände aufs Steuerrad, bevor er sich im Regenwasser wie hinter Plexiglas aus seinen Umrissen löst.

“Schön, wie Du die Ruhe selbst bist”, hört er seine Mutter sagen. Erdling lächelt. Und er ist glücklich, dass alle stillen Kriege der Vergangenheit nicht verhindern konnten, dass aus der leisen Leere solcher Augenblicke neue Töne des Verstehens aufsteigen. Am Grund der Dinge angekommen, muss nichts bewiesen werden noch geleistet sein. Da willst Du nicht schreien, sondern lauschen.

Er steht einfach da, sitzt in einem ganz und gar nicht verlorenen und erst recht nicht abgestellten Auto, das seine Reise fortsetzen wird, wenn ihm der Weg frei gegeben ist. Erdling will die Zeit erkunden, so wie sie sich ihm anbietet.

Erlebtes und Erdachtes wird Erzähltes

∞  3. Februar 2007, 12:47

Noch bin ich der Meinung, höchstens mit durchschnittlicher Phantasie beschenkt worden zu sein. Dennoch gibt es Momente, in denen sich ein spontaner Gedanke oder eine Erinnerung zu einer Geschichte entwickelt, wie ein einzelner Faden, der zu einem Netz gesponnen wird.

Hier soll daher Kurzes und Längeres in Prosa seinen Platz finden, das nichts mit einem Tagebuch zu tun hat.