Reflexionen

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Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Mongolei 2006 - Tag 4 (2)

∞  15 Mai 2007, 20:36

Erlebt am 10. Juli 2006, in Tsetserleg


Am Naadamfest in Tsetserleg



Dann heisst es plötzlich: Aufbruch, aber hurtig!
Denn heute ist Naadamfest in Blumendorf, und das ist der grösste Feiertag des Jahres. Da tragen die Mongolen ihre liebsten Wettkämpfe aus, und wir kommen gerade recht, um direkt auf der Ziellinie den Einlauf der Sieger im Pferderennen zu verfolgen. Der Sieger ist ein Knabe (oder ein Mädchen?) von höchstens acht Jahren, vielleicht auch nur sechs, und er oder sie hat 20 km Galopp ohne Sattel hinter sich… Jedes Gramm Gewicht wird gespart.
Ein Bild der ersten Verfolger:



Jetzt geht es weiter ins Ringerstadion. Baktar lotst uns zielsicher auf die Haupttribüne,



wo wir inmitten von Einheimischen Beobachtern





Zeuge verschiedener Siegerehrungen werden. In Disziplinen wie Schach oder Volleyball geschieht das ohne viel Aufhebens. Anders sieht das aus, als die Reiter und ihre Pferde, sie vor allem, geehrt werden.



Prächtige Schleifen werden umgehängt, Hüte aufgesetzt, auf die Stärke und Erhabenheit der Pferde gesungen und Kumis über die Mähne geträufelt.
Kumis ist auch hier allgegenwärtig und Teil jeder Zeremonie.
Dann beginnt der Ringerfinal. Die leichtere Klasse (oder der Nachwuchs?) ist fertig, bevor alle richtig hingucken. Ein sauberer Schulterwurf, das kann ich gerade noch erkennen. Jeder Kampf ist entschieden, sobald ein Ringer mit einem anderen Körperteil als den Füssen den Boden berührt.

Dann aber stehen sich die wirklich Bösen im Rund gegenüber. Etwas ungleich die Grössenverhältnisse, was mich orakeln lässt, dass der Kleinere gewinnen wird, weil der Grössere über die eigenen Füsse stolpern dürfte. Sie belauern sich gegenseitig, immer begleitet von ihren Sekundanten und einem Kampfrichter, aber es scheint um so viel zu gehen, dass keiner das kleinste Risiko eingehen will.



Schliesslich werden die beiden nicht gar so kampfwilligen Widersacher gezwungen, sich enger an den Hosen zu packen. Jetzt erinnert mich die Ausgangslage schon fast an ein eidgenössisches Schwingfest, auch wenn der Samt hier schon viel kleidsamer ist als das spröde Sackleinen in unseren heimischen Gefilden. Wir Schweizer waren eben schon immer kokett in unserer bewusst unprätentiösen Affiche.
Unten auf dem Platz aber kommt der Kleinere fast nicht zum Greifen in die Grundstellung, so viel geringer sind seine Hebel, sprich seine Arme kürzer… und dann, ja dann passiert es: Der Grosse greift an. Weil es kurz geregnet hat, ist das Gras nass. Seine Schritte sind schnell. Zu explosiv. Der rechte Fuss rutscht leicht weg und der Kleine Schlaumeier drückt nach und Schwupps liegt der Riese auf den Knien. Aus!
Der Sieger kommt kaum dazu, mit ausgebreiteten Armen in Zeitlupe den Adlertanz des Siegers um eine Standarte auszuführen, denn schon drängen die Zuschauer zu hunderten auf den Platz. Kein Applaus, kein lautes Rufen begleitet den Sieg. Ein Gemurmel aber kommt auf, schwillt an, verdichtet sich zu einem Brodeln. Die Menschen versuchen, den Ringer zu berühren. Etwas Schweiss von ihm abzuwischen bringt Glück.
Während dessen tanzt der Unterlegene verloren und vergessen um die Standarte, damit der Tradition die Ehre erweisend, dabei aber mit dem gleichen Phänomen konfrontiert wie viele Leidensgenossen mit ihm auf der ganzen Welt: The Winner takes it all…
Dann kommen die Protagonisten auf die Tribüne, der Sieger zuerst. Der scheinbar so Kleine ist aus der Nähe betrachtet ein Modellathlet,



in dessen Begleitung ich mich um Mitternacht in jede Strasse trauen würde!

Wir schlendern danach noch ein bisschen durch das Jurtenlager, in dem aus jedem Ger Rauchschwaden ziehen. Überall werden Esswaren zubereitet und feilgeboten. Baktar sucht Kuschur, Hammelfleisch in frittierten Teig gepackt, aber er muss lange suchen, und die Exemplare, die er schliesslich ergattert, scheinen mit den letzten Krümeln des allerletzten Hammels ausgekommen sein zu müssen…

Wir gehen einkaufen, und unsere Frauen finden sich immer besser zurecht. Die Technik des Einkaufens will gelernt sein. Einkaufen ab Liste oder spontan im Laden? Damit nicht jede Zutat im Laden neu diskutiert wird und jeder Entscheid fünfmal umgestossen und dann doch wieder umgesetzt wird, ist so eine Liste doch ganz praktisch. Ono sorgt dann dafür, dass uns im Laden kein überraschendes Angebot durch die Lappen geht.

Dann heisst es ein erstes Mal Abschied nehmen. Morgen werden wir nur noch rasch vorbeifahren, zum Händeschütteln… Eltern und Bruder und Sanah werden geherzt. Was für uns eine schöne Begegnung abschliesst, ist für die Schwestern eine Trennung auf unbestimmte Zeit, vielleicht für Jahre.

Im Camp zwingen wir uns zur grossen Auslegeordnung. Es gilt, all die Esswaren so zu verstauen, dass sie schüttelresistent verpackt sind und dennoch leicht und logisch wieder gefunden werden können. Eine nicht zu unterschätzende, aber sehr wichtige Aufgabe, wie uns die ersten drei Tage schon gelehrt haben. Das Speiseöl füllen wir in kleine Petflaschen, die um Einiges bessere Verschlüsse haben als die Originalflasche…

Vor dem Einschlafen läuft der Tag nochmals wie ein Film vor mir ab, und ich nehme mir sehr ernsthaft vor, ab morgen auch mit der Kamera präsenter zu sein. Zum ersten Mal fotografiere ich sowohl digital wie analog (Dias), und ich habe den Ausgleich noch nicht gefunden. Das switchen zwischen den beiden Kameras, einer Canon EOS 3 und einer Canon EOS 350D ist gar nicht so leicht. Handling und Feeling sind doch sehr unterschiedlich. Schöne Probleme sind das, denke ich, und schlafe entspannt ein.