Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Mongolei 2006 - Tag 1 (4)

∞  4 April 2007, 19:32

Gereist am 7. Juli 2006

Ein Tag der Suche nach dem Notwendigen

Ono meint, es wäre wohl besser, wenn einer von uns in der Wohnung bliebe und das Gepäck hütete. Die Wahl fällt auf mich. Mir ist das recht. Noch ein wenig Alleinsein, vielleicht gar etwas Einsamkeit, ist mir nicht unangenehm vor den vielen Stunden in der Enge des Autos. Und für meine Frau wäre das nichts: Ein Tag ohne Beschäftigung nach einer langen schlaflosen Nacht, und doch wachbleiben? Bei sieben Stunden Zeitverschiebung “nach vorn, eben gegen Osten” nicht so einfach…

Vor Mittag ziehen meine Mitstreiter also los, nachdem wir gemeinsam eine Einkaufsliste erstellt haben.
Wir brauchen einen zum Camping tauglichen Tisch, fünf ebensolche Stühle, Lebensmittel, Wasserkanister, Gaskartuschen, eine Schaufel usw. usw. – und dafür einheimisches Geld, wofür wir das Budget nochmals abstimmen und die gemeinsame Kasse eröffnen.

Allein habe ich jetzt Zeit, die Wohnung zu durchstreifen. Viel Zeit und eine Kamera. In Ulaanbaatar ist im Juli Hochsommer. Die Temperaturen würde man bei uns mit „frühsommerlich“ umschreiben, obwohl es dieses Jahr und vor allem gerade jetzt viel zu kühl und sehr feucht ist. Im Winter aber ist es in „UB“ kalt, sehr kalt. Die Durchschnitts-Januar-Temperatur liegt bei 26 Grad Celsius unter Null. Die Fenster haben Vorfenster, aber wirklich dicht sind sie nicht… Die Farbe am Holz springt überall ab.

Alles zeigt seine Vergänglichkeit, scheint aber funktionsfähig zu sein. Fotografiert wirkt jetzt Vieles pittoresk, bei gut zwanzig Grad und schwüler Luft, was in der Kälte einfach nur hart sein muss…

Reparaturen sind auch in der Hauptstadt oft eine Frage der Ressourcen. Ersatzteile sind oft nicht verfügbar, undichte Leitungen werden auf alle möglichen Arten abgedichtet, oder eben auch nicht… Ich aber stehe in der Wärme, behütet von vier, acht, zwölf Wänden und fühle mich beschenkt.

Ich bin zehn Flugstunden und eine gefühlte Ewigkeit von meiner Heimat entfernt, kann die örtliche Sprache nicht, werde von Freunden begleitet und sicher auch unterstützt, wenn ich Probleme haben sollte, lasse den Ballast in der Ferne zurück und werde allmählich ruhig. In der Schläfrigkeit regt sich aber auch das, was am Reisen so toll ist: Es beginnt eine Loslösung, die im zvilisationsgeschwängerten westlichen Alltag nicht mehr gelingen will. Hier werden wir die wirklich wichtigen Dinge wieder ins Zentrum rücken und während drei Wochen darauf konzentriert bleiben können. Und wir werden es geniessen, sehr wenig mehr als das Notwendigste zu brauchen, um uns rundum wohl zu fühlen.

Drei Stunden später hat sich der Himmel zugezogen und ein heftiger Regen streicht aus grau-schwarzen Wolken über die Stadt. Heftiger Wind und prasselnde Regentropfen lassen rund um “meine Wohnung” Türen schlagen und Bleche ächzen und klirren, während Menschen den grossen Platz vor dem Küchenfenster ohne Eile durchqueren. Schirme sehe ich keine. Sie werden wohl eher als Sonnenschutz verwendet, was momentan weit ab von der Realität ist.

Ein Junge stellt sich mitten auf dem Platz unter den Himmel, neigt den Kopf nach hinten und lässt sich das Regenwasser übers Gesicht laufen.

Ich bewundere Menschen, die fremde Sprachen lernen können. Ich meine wirklich fremde: Will man mongolisch lernen, so ist die phonetisch-technische Schwierigkeit des englischen “th” eine müde Zungenübung für Dreikäsehochs. Ono kann mir ein Wort zehn Mal vorsprechen, ich kann es nicht nachsagen. Ich verstehe einfach nicht, wie ich meine Zunge hinter die Zähne und Lippen bringen müsste, dass es so klänge, wie ich es von ihr höre. Die Laute klingen teilweise so fremd, dass sie schon auf dem Weg in mein Hirn vor meinem Bewusstsein verdampfen: Ich kann sie mir nicht merken. Diese Sprache zu lernen, wäre eine riesige Herausforderung für mich. Thomas und seinen Schwiegervater scheint es allerdings nicht über Gebühr zu beschäftigen, dass sie sich nicht oder nur sehr eingeschränkt mit einander unterhalten können, und so ganz im Stillen dürfte sich “mein Thomzeck” ( “grosses Pferd” ) wie er liebevoll von Ono genannt wird, allmählich doch einen Wortschatz bilden.

Wenn es häufiger so schütten sollte wie eben, denke ich, dann wäre es ganz nett, wenn meine Kameraden auf die Idee kämen, noch eine Art Sonnen- und Regenbaldachin zu kaufen… Ich kann nicht wissen, dass sie gerade jetzt über Strassen laufen, in denen durch den heftigen Regen das Wasser mehr als knöcheltief stehen bleibt… und dass sie genau so eine Plane mitbringen werden.

Aber der Himmel weint scheinbar nie lange am Stück über der Mongolei (oder über die Mongolei?). Klingt etwas pathetisch, ich weiss. Aber wenn Du erlebt hast, mit welcher Weite sich der Himmel über mongolische Ebenen zu spannen vermag, dann ist diese Formulierung ganz natürlich. Und dieses Land IST so weit, dass die Gedanken schon mal ein bisschen (aus-)schweifen mögen… Auch über UB reisst der Himmel teilweise wieder auf und die Luft ist kühl und frisch, wie ich sehr gut fühlen kann, während ich am offenen Fenster stehe.

Nach mehr als sechs Stunden sind meine Reisegefährten zurück. Und nudelfertig. Das Pendeln zwischen dem wuseligen Schwarzmarkt und dem Supermarkt kostet Energie und Campingstühle waren kaum aufzutreiben: Nachdem der erste unter Thomas’ Hintern beim Probesitzen zusammen krachte und danach im Nu das ganze Angebot aus dem Laden verschwand, wie mir erzählt wird…
Da sitzen sie also nun, ziemlich geschafft, und befürchten, dass der Tisch zu klein und die Stühle zu gross sind (immerhin stabil genug scheinen sie zu sein), und wir gar nicht alles im Auto unterbringen können. Thomas stellt daher von Koffer auf Tasche um – die lässt sich im Auto viel besser verstauen. Dazu Zelte und Schlafsäcke – viele kleine einzelne Gepäckstücke lassen sich besser verstauen als wenige (zu) grosse.
Wir wollen uns Nudeln kochen. Aber der Herd funktioniert nicht. Wir mongolisieren ein erstes Mal, wie das hier heisst, und giessen immer wieder heisses Wasser aus dem Wasserkocher über die Nudeln, bis diese zwar nicht gar aber doch weich sind.

Ono ist deprimiert. Sie leidet unter den Unzulänglichkeiten. Was für uns kein grosses Problem und höchstens eine nette Anekdote ist, löst bei ihr Traurigkeit und Scham aus: Die Unterschiede im Alltag zu Deutschland – sie wirken belastend und sind ihr peinlich. Sie hatte sich schon so an die Lebensumstände in Deutschland gewöhnt, dass sie nun überrascht ist vom Gegensatz, der ihr ganz unvermittelt bewusst wird. Ich versuche, Ono zu versichern, wie glücklich wir über die grosse und saubere Wohnung sind und die guten Betten, die uns sicher tief schlafen lassen. Tatsächlich ist alles komfortabler, als ich es erwartet habe. Aber ich bin nicht sicher, ob ich Ono wirklich überzeugen kann… Dabei vermisse ich wirklich nichts.
Ich reise nicht hierher, um alles so anzutreffen wie zu Hause. Was bei uns perfekt funktioniert, ist allzu oft nur Funktion – und trägt kein Leben mehr in sich. Die Menschen hier wissen sehr viel mehr über das Leben. Wir kennen nurmehr die Zivilisation…

Tatsächlich schlafen wir gut und fest und der erste Tag klingt in tiefer Müdigkeit ruhig aus. Wir sind nicht mehr die Jüngsten. Aber Alter und Erfahrung halten sich gerade noch so die Waage, dass wir alles nehmen können und wollen, wie es kommt. Da bin ich sicher.

*

Blick aus einem der Schlafzimmer auf die Rückseite des Theaters am Suchbaatar-Platz:

Noch sind wir uns nicht richtig bewusst, wie sehr wir diese aus Deutschland mitgebrachte Kostbarkeit nochmals geniessen sollten…: