Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Stadtbesuch

∞  18 September 2008, 15:06

Begegnungen – müssen sie immer körperlicher sein, nachhaltiger, als ein Windhauch, der sich für einen Moment im Haar verfängt?




In einer grossen Stadt fremd sein dürfen, kann sehr schön sein. Vor allem dann, wenn das Wuselige, das scheinbar Beschäftigte um mich herum nichts mit mir selbst zu tun hat. Wenn alles von mir weg fliesst, an mir vorbei schiesst, während ich selbst da stehe und mich wundern darf. Das Aufgeregte hat nichts mit mir zu tun. Ich arbeite hier nicht. Ich bin wie zu Besuch. Bei wem? Ich bin nicht eingeladen. Die Stadt öffnet sich mir oder auch nicht. Von was hängt das ab? Nicht zuletzt von mir.

Dennoch ist es wunderschön, diese Hilfe zu erfahren: An einer Kreuzung zu stehen, den Stadtplan in der Hand zu drehen und mit dem nach links und rechts zur Seite gelegten Kopf ganz offensichtlich so fragend hilflos zu wirken, dass mich ein Passant anspricht, ob er mir denn helfen könne?

Wenn Sie einem Menschen in Ihrer Stadt fünfhundert Meter weiter helfen, dann ist das eine besondere Art von Gastfreundschaft, die dieser Mensch vielleicht für immer mit Ihnen verbindet. Dann sind SIE Zürich. Oder Bern, St. Gallen, Andelfingen oder Uzwil.

Ich gehe manchmal eine Häuserfassade entlang bei Tage. Ich wundere mich über die unterschiedlichen Baustile, sich vertragende oder widersprechende Farben, in der breiten Palette zwischen Lieblichkeit und Widerspruch. Ich sehe einen kleinen Zwerg, wie es ihn zu Tausenden geben dürfte, auf einem Fenstersims hinter Glas sitzen, vor geschlossenen Gardinen. Ich sehe Häusergiebel, die sich in Fenstern spiegeln, gekrümmt von gewölbtem Glas, verbogen in meinem indirekten Blick. Ich sehe einen Vorhang, der sich bewegt, ich sehe blindes Glas und Staub, während davor ein alter Mann, vor langer Zeit in seinen Kaffeehausstuhl abgesunken, die Ellbogen an den knochigen Körper gepresst, mit spitzen Fingern seine staubige Brille putzt. Das grüne Tuch in seinen Händen leuchtet hell und intensiv.

Der Optimismus dieser schönen, einfachen Tätigkeit wird von der jungen Frau auf dem klapprigen Fahrrad aufgenommen, indem er sich auf ihre Lippen regt und sie mich anlächeln lässt, während sie genau vor mir um die Ecke biegt.

Je weicher das Licht wird, um so länger strecken sich die Schatten über den Boden. Der Kellner nimmt die Bestellung auf. Die Luft weht kühler und fährt mir in unregelmässigen Abständen durchs Haar. Ich blicke an der Fassade hoch und sehe die ersten Lichter angehen. Nichts spiegelt sich mehr in den Fenstern. Die Schatten dahinter gehören den Bewohnern, die Gardinen sind eine Art Schattenbewahrer.

Die Lichter werden zahlreicher und flüstern etwas von den Leben, die sie beleuchten. Sie sind so zahlreich, so verschieden und doch so erzählenswert, mögen sie sich auch noch so einsam fühlen.

Für mich wird es Zeit, mich auf einen langen Heimweg zu machen, vorbei an diesen Leben, während ich das eigene ganz achtsam in mein Hotel tragen will. Wenn ich es bewusst tue, wird es mir nicht schwer fallen, den Blickkontakt mit anderen Menschen zu suchen, während ich gehe. Ich will es so tun, dass ich keinen von ihnen erschrecke oder bedränge damit – und so, dass ich von Zeit zu Zeit doch einen Augenaufschlag erkennen darf, offene Augen, die einen Blick erwidern können und ihrerseits mein Lächeln weiter tragen. Schliesslich wird der Mann mit der geputzten Brille bald auch nach Hause aufbrechen und die Frau mit dem Fahrrad auch am Ziel sein.

Es sollte nicht sein, dass sie nicht ihrerseits von einem Lächeln erwartet werden.


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[Bildquelle: Caro N., Fotocommunity ]




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Zwischen Tagen schwebende Gedanken


einsam oder allein - unter einander ist das eine persönliche Frage