Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Idaplatz

∞  8 August 2008, 20:33

Ein intaktes Quartier ist oft eine Art Städtchen in der Stadt. Die Cafés drücken sich klein und verspielt in winzige Ecken, die Trödler erobern das Trottoir vor dem Geschäft, der Schuhmacher, der mit seinem Faktotum von einem Laden doch schon vor zwanzig Jahren unmöglich überleben konnte, ist immer noch da.




Vorn an der Kreuzung hört man den Verkehrslärm, wenn die Autolenker mit starrem Blick für die Kolonne ins Nirgendwo Gas geben und entschwinden. Doch wenn man hier um die Ecke biegt, breitet sich eine Art Dorfplatz aus, der von einigen still rostenden klapprigen Fahrrädern bewacht wird. Alles hier lässt der Zeit ihren Lauf, und daran ändert auch nichts, dass der Platz erst kürzlich renoviert wurde.

An drei Ecken stehen dem Passanten die anarchisch zersiedelten Stühle von Cafés wie Zeugen vergangener und wieder verheissener Gemütlichkeit im Weg. Hier geht man nicht vorbei. Hier kommt man hin. Und sonst hat man hier irgendwie nichts verloren. Dann sitzt man vielleicht am kreisrunden Platz in der Mitte auf einem der neuen Bänke, die neu bekrittelt und bekritzelt und beklebt sind mit kundgebenden kundigen und unkundigen Kommentaren zu allem, was die Welt bewegt oder bewegen sollte: Nein zum Polizeistaat.

Zum ersten Mal fällt mir auf, dass mich links aussen eigentlich das gleiche Phänomen erwartet wie rechts aussen: Die Penetranz der Neinsager. Und was man sich so herholen und sich zurechtbasteln muss, um dann kräftig NEIN sagen zu können, ist, eben, weit hergeholt.

Aber irgendwie passen meine Gedanken gar nicht hierher, sind viel zu verkrampft angesichts einer Nonchalance, mit der hier allem begegnet wird, was ein bisschen aufgeregt scheinen mag. Jene, die das wissen, sehen sich vor, und drosseln schon früh das Tempo: Der Paketbote hört sogar auf, beim Fahren auch noch ein SMS zu tippen, und der Müllkipper schiebt sich Meter für Meter am Platz vorbei, aber nicht ganz: Der Fahrer hält schliesslich ganz an, unmittelbar vor dem Café am Eck, und lässt sich, tatsächlich, einen Espresso reichen.

Den alten Herrn neben mir interessiert das nicht. Er hat sich mit seinem knochigen Hintern auf die Parolen auf der Bank gesetzt und liest den Blick.
Rechts von mir, auf der Bank unter den Bäumen lauscht eine Frau um die vierzig in die Stille, als würde sie das Rauschen des Windes in den Wipfeln über ihr vermissen. Ihre Augen schauen entspannt ins Leere, und ich versuche vergeblich, den Fluchtpunkt ihres Blicks am Rande des Platzes auszumachen. Es gibt keinen. Die Leere füllt sich irgendwo im unterbewussten Denken zu einem Tropfen Zeit auf, wie es hier die Menschen jeden Tag erleben.




Ich stehe auf und schlendere umher, die Kamera in der Hand, auf der Suche nach Kleinigkeiten. Buchstaben in der Wirrniss des Verfalls, auf abgerissenen Plakatfetzen, die sich um eine dicke steinerne Säule winden. Zum ersten Mal lese ich die in Stein gemeisselten Lettern in Grossbuchstaben unter der schmalrandigen Kuppel: ALLGEMEINE PLAKATGESELLSCHAFT.

Dafür muss ich rund um den Miniobelisken herum laufen und weiss, dass ich von vielen Augenpaaren gemustert werde. Aber nicht wirklich beobachtet. So was wie mich sieht man hier täglich. Morgen kommt einer, der sich nur für die Gullis interessiert. Sonderbare Käuze gibt’s viele. Hauptsache, sie sind nicht gefährlich und tun niemandem weh.

Als ich den Platz verlasse, weiss ich: Wenn ich das nächste Mal wieder hier bin, ist alles wie heute.






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lass die Zeit tropfen statt fliessen