Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Von verschiedenen Scheren in verschiedenen Köpfen

∞  6 August 2008, 13:57

Die verschiedensten Formen von Zensur – genau so verschieden, wie die Interessen unterschiedlich sind. Wie auch immer wir uns dazu stellen mögen – es bleibt das Gefühl, fast wegschauen zu müssen. Hinschauen ist im Grunde gar nicht auszuhalten, mag die Ästhetik der Athletik noch so verführerisch sein…


W ir mögen uns ärgern oder befremdet sein ob der Meldungen aus Peking, die westliche Journalisten für uns bereit halten. Im Grunde können einem die Beamten vor Ort, zumindest das Fussvolk, auch Leid tun. Die armen Kerle wissen doch gar nicht, wie ihnen geschieht, dass da plötzlich Langnasen rumstehen und sich doch tatsächlich getrauen, an eine Uniform heran zu fragen:
Warum tun Sie das? Warum darf ich nicht?
Geradezu herrlich demaskierend, was zudem selbst dann als Antwort herauskommt, wenn in irgend einer Schreibstube sich jemand gar eine offizielle Verlautbarung überlegen könnte. Aber selbst mit Anlauf landet da so mancher in der Fallgrube. So wie hier:


Wenige Stunden nach einem Bericht über neue Beschränkungen, die einen Antrag für Interviews auf dem symbolträchtigen Platz im Herzen Pekings vorschrieben, berichtete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua am Dienstag, dass die Anforderung «nicht zwingend» sei.

«Aber eine Vorabinformation würde uns helfen, besser Unterstützung zu leisten»,zitierte Xinhua das Verwaltungskomitee für den Platz.

Zitat: NZZ Online



Puuuh, nicht nur ich werde ganz offensichtlich froh sein, wenn Olympia vorbei ist. Für uns wird es vorbei sein, für die Chinesen abseits der politisch korrekten Linie aber nicht…
Nun, wir müssen gar nicht zu sehr mit dem Zeigefinger nach Osten weisen. Denn dort vor Ort trifft sich quasi im Fluchtpunkt der Entwicklungen der globale Kommerz und Betrug, zu dem wir wacker Beistand leisten. Und der Sport ist die perfekte Bühne für die Desavouierung aller vorgeschobenen Moral. Im Migros-Magzin ist ein Interview mit Ines Geipel erschienen, ehemalige DDR-Spitzensportlerin und dadurch Dopingopfer im Staatssystem. Sie hat sich für die Offensive entschieden und legt den Finger nach Ihren Erlebnissen nun auf alle Scheinheiligkeiten, die ihr unterkommen. Nun, auch eine direkt Betroffene, vielleicht verbittert durch die Erfahrung, systematisch manipuliert worden zu sein, mag nicht objektiv sein und ihre Interessen verfolgen. Legitim scheint es mir dennoch, ihre Aussagen dem allgemeinen Mainstream offizieller Seiten zum Thema Doping gegenüber zu stellen. Denn auch in diesem immensen Marktdruck liegt eine Form von Zensur. Darum hier ein paar Aussagen von ihr:


99 Prozent der weltweit umgesetzten Steroide (mit männlichen Geschlechtshormonen vergleichbar, Anmerkung der Redaktion) stammen aus China. Die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) schätzt, dass China 70 bis 80 Prozent des Schwarzmarkts für Wachstumshormone bestreitet.


Epo ist nicht gleich Epo. Laut dem Medizinprofessor und Doping-jäger Werner Franke sind derzeit zehn Varianten von Epo im Umlauf, die wie Epo wirken, aber nicht nachweisbar sind.


Weltweit stehen im Kampf gegen Doping lediglich 50 Millionen Euro zur Verfügung. Verglichen mit den Milliardenumsätzen im Spitzensport ein Klacks.


Kein Labor der Welt kennt auch nur die Hälfte der Stoffe, die aktuell gebraucht werden.


Laut der medizinischen Abteilung des IOC wird die Zahl der Leute, die nach dem Ende der Sportkarriere Selbstmord begehen, Jahr für Jahr grösser. Kein Wunder, denn Steroide verursachen neuronale Schäden, die Leute werden schwer depressiv. Und laut einer neuen Studie ist Epo krebserregend.


Der Umsatz mit Ritalin hat sich in den letzten zehn Jahren versiebenfacht. Ritalin steht übrigens auf der Dopingliste. 20 Millionen Amerikaner nehmen regelmässig Prozac. Der Weltmarkt für Lifestyledrogen zur Verbesserung der Libido, des Appetits und so weiter beträgt 27 Milliarden Dollar. Selbst der Amateursport hat seine Unschuld verloren: Eine Million Deutsche nehmen Steroide und Wachstumshormone.


Es folgt eine Rückblende auf die eigenen Erfahrungen in der DDR – mit den ganz persönlichen Langzeitfolgen. Und man mag gar nicht mehr nach Peking schauen…:
Die Athleten Chinas, die sich für Olympia qualifiziert haben, sind für alle Medien dieser Welt seit Monaten nicht verfügbar. Keine Reportagen, keine Interviews, nichts.

Zum Ruhm der Nation vor der Welt. Und wenn das nicht nachhallt, dann zumindest zur Stärkung des Nationalbewusstseins aller Chinesen auf der Welt.
Ich weiss nicht. Es sieht mir nicht danach aus, als könnte die Hoffnung des Dalai Lamas und anderer Repräsentanten von Minderheiten aufgehen, dass die Bühne Olympia China zu mehr Reflexion über eigene Defizite anhalten könnte. Die Göttin Gloria ist auf diesem Auge blind.

Ach ja: Der ungeschickte Versuch, auf dem Tiananmen gefilmte Interviews zu verbieten, ist die Reaktion der chinesischen Behörden auf eine Aktion umgesiedelter Chinesen, die einen geführten Restaurantbesuch westlicher Journalisten am Rande des Platzes zuvor dazu benutzt hatten, mit Plakaten zu protestieren – gegen die ausgebliebenen Entschädigungen für die Zwangsumsiedlungen.



:::

Links:
Das Interview mit Ines Geipel (frühere Schmidt) im Migros-Magazin im PdF-Format




Beitrag abgelegt in Themen
Zahlen statt Worte
und
Sport[ler]


Ruhm und Ehr wiegen schwer