Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Von neuen Gesellschaftsschichten

∞  26 Juli 2012, 11:25

Vor dreissig Jahren drehten sich in meiner Studentenzeit die Diskussionen rund um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Gesellschaft, und damit um Aufgabestellungen, mit denen der Mittelstand gefördert werden könne. Es galt, und gälte wohl noch immer, dass eine breite Partizipation der Bevölkerung an einem gewissen Wohlstand und materieller Sicherheit den sozialen Frieden fördert und die Identifikation mit dem eigenen Staat begünstigt.

Die europäische Union wurde noch als Zusammenschluss verschiedener Nationen im Rahmen gemeinsamer wirtschaftlicher Zusammenarbeit verstanden. Friedensförderung stand im Zentrum, die Geschichte des 2. Weltkriegs war noch in jungen Köpfen präsent.

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Mittlerweile haben sich die Parameter gründlich verschoben. Die Welt ist ein Dorf, und wenn man genau hinhört(e), war der Euro ein Mittel, um im Wettstreit der Globaliserung den Wirtschaftsraum Europa möglichst schnell am grossen Rennen teilnehmen lassen zu können. Es ist gründlich schief gegangen. Mit tief greifendem Einfluss auf die Gesellschaft: Der Mittelstand ist kaum breiter geworden. Er macht hingegen die Erfahrung, dass er immer mehr Lasten eines defizitären Staatswesens tragen muss – und zwar in Kausalhaftung für ferne Bündnispartner. Die Folge ist, dass wir nun Dinge wie Sozialschmarotzertum diskutieren, weil wir ausmachen, dass das Drängen von Einwanderern an die heimischen Futtertröge unseren Sozialstaat ausbeutet. Und am anderen Ende diskutieren wir über die Reichensteuer. In Deutschland soll der ganze Bevölkerungsteil der Wohlhabenden in Kausalhaftung genommen werden für die Staatsschulden, welche in südlichen Ländern auch deswegen entstehen, weil es dort gerade nicht gelang oder gar nicht ernsthaft versucht wurde, die Steuermoral auch nur annähernd zu erreichen, welche nun in Zentraleuropa bröckelt.

Denn eines ist klar: Wenn wir nicht mehr bestrebt sind, aus Arbeitern und Angestellten Angehörige des Mittelstands zu machen, sondern jenseits des eigenen Gärtchens schlicht Sozialbetrüger und Steuerflüchtlinge vermuten, wird unser Gefüge endgültig auseinander brechen. Aber es ist sehr viel interessanter und medial irgendwie griffiger, über neue Steuereinnahmen und also bisherige Günstlinge des Systems zu “diskutieren”, als sich zu fragen, warum unser aller Bereitschaft, Teilnehmer am Staat zu sein, nicht grösser ist?

Derweil betrügen wir weiter die Versicherung, bezahlen Arbeiter schwarz, kaufen ennet der Grenze ein und engagieren Handwerker aus Osteuropa. Wir erkundigen uns im Fachgeschäft und kaufen dann im Internet. Wir machen auf unserer Spielwiese genau das, was andere auch tun. Und keiner kümmert sich weiter um die daneben. Es gibt davon ja auch immer weniger. Es gibt mich und den da unten und Sie da oben.

Und wie immer, auch in der Politik, wird über Konzepte gesprochen, aber nicht davon, wie bestehende Systeme funktionsfähig(er) gemacht werden könnten. Jeder Deutsche ist sich gewohnt, dass er von einer Amtsstelle nichts Gutes zu erwarten hat, geschweige denn einen höflichen Ton. Warum eigentlich? Eine auch nur ein bisschen nicht ganz einfältige Einkommens- und Vermögenssituation soll es unmöglich machen, die Steuererklärung selbst ausfüllen zu können? Ist das gerecht, sinnvoll, wirtschaftlich? Jedes Gesetz strotzt nur so von Ausnahmen, Sonderregelungen und Einschränkungen. Es ist zum Verzweifeln. Aber die Optimierung der eigenen Einrichtungen ist Knochenarbeit. Und die Überprüfung, ob Gesetze, so wie sie angedacht waren, auch greifen, eine politische Plficht, die nicht wahr genommen wird.