Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Schüler ohne Noten und ohne Rüstzeug

∞  24 Juli 2010, 21:54

Dies ist ein Ort, an dem sie schon oft beklagt wurde: Die Leistungsgesellschaft. Vor allem die Art, wie wir uns ihr unterwerfen und wie wir zulassen, dass sie sich in alle Bereiche unseres Lebens zwängt und uns im Grunde während 24 Stunden zu Wettkämpfern macht, die versuchen, dem Leben den Spass, die Freude und das Glück abzuringen, das uns ständig wie ein knappes Gut vorauseilt und immer erst hinter der nächsten Ecke, dem nächsten Ziel zu vermuten ist.

Die Berufswelt ist – genau so wie die Konsumwelt – eine globale Welt geworden. Unser Heiligtum ist der Markt. Und der funktioniert durch Wettbewerb. Zumindest in der Theorie. In der Praxis versucht der Marktleader nichts so sehr, wie genau diesen Mechanismus auszuschalten: Er sucht mit seinem Produkt die Exklusivität, den Kniff, der die Nachfrage so sehr steigert, dass der Preis explodiert. Das was alle wollen und nur wenige produzieren, verspricht riesige Profite. Apple hat die Löhne in der Lizenzfertigung in China um 30% angehoben, als Berichte von Selbstmorden in der gestressten Arbeiterschaft bekannt wurden. Und kein Mensch fragt sich, was für Margen auf den Produkten liegen müssen, dass dies möglich ist, ohne die Preise massiv anzuheben…

Die Erziehungsdirektorin des Kantons Zürich ist daran, eine ganz besondere Offensive zu starten. In dieser Bildungsoffensive wird schon der Name zum Problem: Zu Aggressiv. Der “Frontalunterricht” ist ja schon längst verpönt, und neulich hat eine Lehrerin gemeint, sie könne doch einem Schüler während der Stunde nicht das Essen verbieten, denn Essen sei ja gesund. Mit vollen Energiespeichern geht es dann in die Pause…

Den Schulsporttag gibt es noch immer. Vielleicht haben Sie den auch gehasst? Ein verordneter Wohlfühl- und Wettstreittag in so sinnvollen Disziplinen wie Stafettenlauf…
Das gibt es alles heute noch, aber scheinbar in neuen Besetzungen. Es gibt keine Klassenwettkämpfe mehr, sondern nur noch gemischte Teams aus allen Klassen, sonst würden “ungesunde” Situationen entstehen. Wenn Ihr Bengel nächstens am Wochenende im Fussballclub nur noch begeistert ist, so lange es 0:0 steht, dann beweist das nicht, dass das seine Sozialkompetenz, die er im Kanton Zürich nun in der Schule lernt:
Siegreichen Mannschaften ist nicht zuzujubeln, das würde die Verlierer traurig stimmen. Nur das Unentschieden ist ein Bravo wert.
Also soll es auch keine Noten mehr geben.

“Die gängigen Beurteilungssysteme mit Noten stellen dagegen ein Mittel zur Selektion und zur Einteilung von Lernenden in verschiedene Leistungsgruppen dar und laufen den integrativen Bestrebungen zuwider.”
Elisabeth Moser Opitz, Professorin für Sonderpädagogik, Uni Zürich, in der NZZ


So weit ist es nicht gekommen, die Noten gibt es noch. Die Theorie aber auch.
Und dazu passt, dass das Zeugnis nur den Eltern gezeigt werden darf. Und gefeiert wird ein gutes Zeugnis schon gar nicht! Mit solchen Instruktionen kommen schon Dreikäsehochs nach Hause. Es scheint fast schon beschämend zu sein, gute Noten zu haben…

Das Bemühen, Wohlfühloasen zu schaffen und integrierende Strukturen, in denen alle Kinder gleich sind, wird zwar wohl mit den höheren Stufen nach und nach korrigiert. Aber mich erstaunt nicht mehr, dass Unternehmen zur Auswahl ihrer Lehrlinge heute immer ausführlichere eigene Tests durchführen, weil sie dem Leistungsausweis des Schülers keine Aussagekraft attestieren können. Und das ist eine Katastrophe:
Der Übertritt von der Schule in die Berufswelt ist immer ein riesiger Schritt gewesen. Mit den Tendenzen einer solchen Bildungspolitik wird für die Schüler ein Spagat notwendig. Und das Erwachen und Ankommen in der Leistungswelt der Berufsausbildung wird brutal. Womit wir wieder beim Anfang wären:
Gerade die immer globaler werdende Arbeitssituation, der Wettbewerb der Besseren und Schnelleren macht doch gerade Rüstzeug im Umgang mit solchen Vergleichen und Konkurrenzsituationen notwendig.
Man sollte aber auch nicht einfach auf die Bildungsdirektion des Kantons Zürich zielen und das alles nur lächerlich machen. Es ist auch ein Blick auf die Eltern notwendig:
Kinder, welche ein Fussballmatch verlieren oder die Kletterstange nicht hoch kommen, haben daran zu knabbern. Es braucht schlicht Betreuungspersonen, die auch hierin den Unterricht weiterführen und Selbstvertrauen vermitteln: Hier bin ich hinten, da bin ich vorn. Wenn ich verliere und wenn ich gewinne, kann ich das mit Anstand tun. Aber ich muss mich im einen Fall nicht schämen und im anderen nicht meinen, ich wäre der König. Freuen aber darf ich mich sehr wohl über meine Talente – und wie sie sich zeigen.

Herrschaft nochmal, Kinder und vor allem ihr Frauen und Männer, die ihr Euch “Erwachsene” nennt. Erwacht endlich und ergreift die Chance, Euren Dreikäsehochs zu zeigen, was ihr selbst gelernt habt. Und spielt ihnen keine Welt vor, die es nur im Schulbiotop gibt.
Ein Schulsystem, in dem keine Charaktere und Intelligenzen nach oben und unten ausschlagen, spricht die Talente der Schüler schlicht nicht an. In diese Richtung aber soll es ja wirklich nicht gehen, oder?


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Quelle: Weltwoche, 29.10, Printausgabe S. 26; Nur für Abonnenten: Web
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