Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Lesereise mit Selbstreflexen eines Bloggers

∞  25 Juli 2010, 21:52

Was für eine Lesereise heute, bei der ich lesend reiste, mit Kopf- und Lustgedanken kreiste, ums Schreiben immer wieder – und über meine eigene Art zu lesen.
Was irgendwie zuammen gehört.
Von Thomas Mann, einmal mehr, diesem mühsam Beherrschten, der andere beherrschte, wohl beherrschen musste, zwanghaft seine Zwänge übertragend – und auf seinem Wegrand Selbstmorde wie Stacheldrahtdornen anhäufte – und von einem georgischen Schriftsteller, der vierzig Jahre nur für die Schublade schreiben konnte oder wollte, vom russischen Geheimdienst wohl gefoltert, auf jeden Fall entführt, der Vater ermordet, er verschwunden hinter dem Vorhang, sichtbaren und unsichtbaren, und nun also schreibt, wie immer, aber auch, wieder im Westen, veröffentlicht, und dessen Werk und Haltung ein Kritiker so beschreibt:
“Seine unbedingt humane Haltung zur Welt.”

Und so raisonniere ich über den Umstand, dass hinter einem grossen Werk kein grosser, oder zumindest guter Mensch stehen muss, was auch immer das sein mag, und dass die Zerrissenheit einer Seele sich in Figuren widerspiegeln kann, so dass wir Teile davon in uns selbst erkennen. Egal wer schreibt, es bin immer ich, der liest.
Liegt darin die innerste Kraft eines Textes? Dass ich in mir selbst zu lesen beginne, dass er wie der Schlüssel zu einem Schloss passt, mit dem ich mich selbst öffne, einfach so, für mich?

Warum ist jemand ein Ekel? Warum bleibt jemand trotz aller Widerwärtigkeiten ein Menschenfreund? Warum lächle ich mein Unglück an oder belle ich mein Glück zum Teufel?

Warum bin ich ehrlich oder nicht, schreibe ich mich weg oder frei oder in Kreisen, aus denen es kein Entrinnen gibt? Darum, weil ich der Mensch bin, der ich bin. Es ist wahrhaftig, wenn ich den Frieden beschreibe, dem ich begegnet bin, aber auch, wenn ich eine Sehnsucht beschreibe, die ich vielleicht verkläre. Aber es ist meine Sehnsucht, mein Irrtum, mein Mangel, mein…
Worte haben eine unwahrscheinliche Kraft. Im Fall der Familie Mann haben sie uns Lesern Weltliteratur beschert, den Nächsten aber so manches Gefängnis mit gebaut. Eine Familie voller Urgewalten und Widersprüche, voller Zerrissenheiten. Wir aber kennen den Zauberberg, zum Beispiel, und klimmen über unsere eigenen Felsen.

Ein Werk, das bleibenden Wert besitzt, entspringt immer der Seele – als Ausdruck gewonnenen Friedens oder eines notleidenden Kampfes. Wahr wird er wohl auch deswegen, weil er geschrieben werden musste. Denkt der Leser, der den Schlüssel im Text ins eigene Schloss gelegt und ihn dann gedreht hat.


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Quellen: Die Zeit, Printausgabe, 22. Juli 2010:
“Das Fluchtloch im Buch”, von Insa Wilke (über Giwi Margwelaschwili) und
“Carla und ihre Brüder”, von Willi Jasper, über Carla Mann und ihre Familie und ihre Männer
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