Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ist mein Vorteil so gross wie Ihrer?

∞  31 Januar 2011, 17:56

Wo einmal Vertrauen war, ist nur noch geschäftiger Augenblick – was morgen kommt, weiss keiner. Übermorgen aber erwachen wir alle… Gedanken zu geschäftlichen und privaten Beziehungsgeflechten…



Beziehungen verändern sich. Mir scheint, dass sich diese banale Tatsache auf allen Ebenen und Tiefen von Verbindungen feststellen lässt – und ich betrachte es mit grosser Sorge, mit einer Art Trauer, weil ich finde, dass die Menschen veröden, eine Menge an möglichem Miteinander für einen momentanen Vorteil preisgeben – und in allem und bei allem immer weniger Vertrauen mitbringen für die Gegenseite.
Das ist im Grunde nur logisch, wenn man den Grundreflex mit an den Tisch bringt, dass man von sich durchaus auf andere schliessen sollte: Merke ich an mir, dass ich gewillt bin, einen Partner leichter fallen zu lassen, als auch schon, tue ich gut daran, anzunehmen, dass dies für die Gegenseite auch gilt…

Ich kann das am klassischen Konflikt einer Preisverhandlung veranschaulichen, bei der an sich die möglichen Wechselwirkungen und Rückschlüsse der Parteien sich nicht verändert haben – aber der Umgang damit sehr wohl:

Nehmen wir an, eine Verhandlung ist eigentlich abgeschlossen und Leistung und Entgelt dafür sind vereinbart. Der Kunde wünscht heute sehr viel schneller als früher eine Nachbesserung aufgrund veränderter Rahmenbedingungen (in seinem Umfeld). Nun kann der Dienstleister erklären, dass das, was verhandelt wurde, was an Rabatten schon gewährt wurde, das Maximum an möglichen Zugeständnissen beinhaltet und einen Abschlag verweigern. Oder aber er kann darauf eingehen und nochmals billiger werden – wobei ihm stark daran gelegen sein wird, dies mit einem “ausserordentlichen Effort”, einem “besonderen Entgegenkommen” zu begründen.
Eine ganz einfache Situation, scheinbar, aber mit völlig unterschiedlichen möglichen Kopfgedanken auf den beiden Seiten des Tisches:

Der Kunde mag denken, dass immer noch etwas zu holen ist und der Lieferant ganz bestimmt zu gut verdient. Kriegt er den Abschlag, sieht er sich bestätigt. Der Lieferant mag meinen, der Kunde wäre nur auf den optimalen finanziellen Vorteil aus und erkenne die Notwendigeit nicht, Gewinn zur weiteren Entwicklung des Geschäfts generieren zu müssen. Was ich nun feststelle, ist, dass, je globaler das Wettbewerbsumfeld wird, um so weniger partnerschaftliche Substanz in den Gesprächen übrig bleibt:

Der Druck für die Produzenten und Dienstleister wird so enorm hoch, dass sie zu jeder Zeit befürchten müssen, auf dem immer anonymer werdenden Angebotsmarkt überraschend überholt zu werden. Das ist die Situation, die Einkäufer triumphieren lässt. Zumindest scheinbar. Denn mit jedem erzwungenen Rabatt kauft man sich auch ein Stück Entfremdung ein: Wenn die Zugeständnisse beim Anbieter an die Substanz gehen, schwindet seine Achtung vor dem Kunden. Er wird wie eine Zitrone ausgepresst. Umgekehrt bekommt er mit seinen Rabatten nicht mehr Respekt zurück: Gewährt er den Abschlag, und sei es auch nur, damit die Gegenseite das Gesicht wahren kann, so kann er immer häufiger im Nachhinein feststellen, dass nur ein Gedanke beim Einkauf übrig blieb: “Wenn ich diesmal so viel bekommen habe, dann liegt nächstes Mal bestimmt noch mehr drin.”

Produzent und Käufer, Anbieter und Einkäufer sind zu Hund und Katz geworden, die sich mehr beargwöhnen als unterstützen. Die Sortimente werden dadurch billiger eingekauft, keine Frage, die Abschläge in den letzten Jahren waren durch den Einkauf in Fernost enorm, aber werden sie auch besser, breiter, vielfältiger? Wo das nicht der Fall ist, liegt das eindeutig daran, dass die etablierten Produzenten angesichts des Preisdrucks ihre Innovationskraft nicht anbringen können, und angesichts des absolut dominierenden Preisfaktors die Verkaufsstrukturen ausgedünnt werden: Auf allen Ebenen findet weniger Sortimentspflege statt, denn die Einkäufer sind nun auch Category Manager und haben damit auch Verkaufsverantwortlichkeiten für immer breitere Soritmente – wofür sie sich von Produzenten am anderen Ende der Welt beraten lassen müssen, die selbst andere Gepflogenheiten im Alltag haben und daraus einen eigenen Begriff für Qualität und Nutzen – ein jeder kann nur das als gut empfehlen, was er selber kennt.

Nun mögen das spezielle Probleme eines speziellen Berufsumfelds sein. Mir scheint aber, dass wir ähnliches in unseren privaten Verhältnissen praktizieren:
Wir legen uns nicht mehr gerne fest. Wir können jederzeit irgendwo jemanden kennen lernen, der wichtig(er) für uns ist. Wir wissen nur zu gut, dass, wenn wir uns zu jemandem bekennen, schon der Zweifel wartet, ob wir uns nicht zu früh festgelegt haben? Und wir können dem Trugschluss erliegen, dass diese unverbindliche Art des Netzwerkens, die wir alle pflegen, wirklich tragfähig ist. Aber es ist ja anders und damit noch schlimmer: Wir wissen dabei eigentlich, dass wir uns bereits verkauft haben. Indem wir unser Netzwerk pflegen, akzeptieren wir, dass auch wir selbst nur so lange interessant sind, wie wir anderen einen Vorteil bringen können. Also stellen wir uns auch entsprechend dar, vergleichen uns und glänzen, wo wir können. Irgendwann beginnen wir über Gebühr zu retuschieren, nehmen Rollen an, die gar nichts mehr mit uns selbst zu tun haben und verlieren uns völlig – tatsächlich in einem Netz gefangen. Es sei denn, wir fallen hindurch. Aber was ist dann?
Und irgendwann, liebe Leser, fallen wir alle durch dieses Netz. Leider geschieht das ziemlich sicher zu einem Zeitpunkt, wo wir noch mehr als nur wach genug sind, darunter auch entsprechend zu leiden…