Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Die unbekannte Taubenmutter

∞  17 Juli 2007, 19:12

Vor einem Ladenkomplez in unserer schönen Stadt Zürich hat sich die Jugend versammelt. Es ist eigentlich wie zwanzig Jahre zuvor: Es wird gefuttert, diskutiert, rumgehängt, und gefachsimpelt über die neusten elektronischen Geräte im Schaufenster, und dazwischen drückt sich hin und wieder einer die Nase an der spiegelnden Scheibe platt.

Nur ein paar Schritte daneben, mir sogar etwas näher, steht eine kleine alte Frau. Trotzdem sehe ich sie erst jetzt. Ich sehe kein Gesicht, sondern nur einen Schlapphut, der in einem früheren Leben oder vor einigen Sintfluten mal ein Sonnenhut mit breiter Krempe gewesen sein mag. Er schwimmt gleichsam am Horizont über einem langen, gekrümmten Rücken, der in einen unförmigen breiten Steiss übergeht, den sie mir absurd unbeholfen entgegen streckt. Meine Augen aber werden noch mehr von ihren dünnen Beinen angezogen, die an diesem heissen Sommertag in geschnürten Halbschuhen mit breiter Fellkrempe stecken. Sie wirken absurd gross und klobig an diesen Knochen, und sie passen zum langen Mantel, der über dieser verbogenen Gestalt hängt, vorne offen, mit schlenkernden Rockstössen die im Rhythmus ihrer ausladend geschwungenen Arme gegen die Knie schlagen.

Die alte Frau füttert Tauben. Auf fünfzig Quadratmetern mögen in diesem Moment zehn Menschen stehen oder sitzen, aber ich scheine der einzige zu sein, der das Hutzelweibchen bemerkt. Aber tue ich es wirklich? Ich betrachte die mindestens sechs prall gefüllten Papiersäcke, die neben ihr auf dem Asphalt abgestellt warten, während die Tauben um sie herum gurren. Und ich? Ich denke daran, dass dieser Mensch alles, was er besitzt, mit sich herum schleppt und das Geld fürs Taubenfutter sich noch irgendwo her spart oder schnorrt. Es ist absurd. Und dann denke ich an die Stadtverwaltung, die gegen die Taubenplage immer wieder Abschusspläne erneuert und durchführt.

Ich überlege mir, dass “man” zu der Frau hingehen und sie von ihrem Tun abhalten müsste, und ich versuche, mir vorzustellen, wie sie reagieren würde. Und natürlich bedeutete es, sich darauf einzulassen, was es dann stattdessen für diese Frau bräuchte, um etwas Lebenssinn zu finden… Dies alles geht mir durch den Kopf, während ich weiter gehe und sie zurück gelassen habe. Ich drehe mich um und sehe, dass sich ihr Rücken unverändert beugt, ja praktisch in der Waagrechten verharrt, ihr Gesicht noch immer nicht zu sehen ist und die jungen Mädchen daneben noch immer nicht gefunden zu haben scheinen, was sie auf den Displays ihrer Handys schon so lange suchen.


Bildquelle: volker-ist.net/fotoblog

Themen: Erdlinge und
Gesellschaft