Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Die Epidemie der Pandemiehysterie

∞  27 April 2009, 21:24

Obwohl ich heute für sehr reale Treffen unterwegs war, nehme ich vor allem ein Grundgefühl mit in den Feierabend: Ich glaube, ich stehe komplett neben den Schuhen und bewege mich in einem Film. Das kann einfach nicht wahr sein, was für ein Bild wir heute wieder abgeben.

Vorm ersten Moment an, als ich kurz vor Mittag ins Auto steige, dominiert ein Thema die Nachrichtensendungen:

Die Schweinegrippe.

Es gibt im Radio, egal welche Station, gar keine Sendeart, die für die Aufbereitung dieses Themas nicht bemüht wird. Das Interview mit dem Experten A, das Gegeninterview mit dem Experten B. Der Kommentar im Studio. Alles nicht so schlimm. Nur gemach. Aber dann schnell auf die Strasse und dramatisch die Leute fragen: “Haben Sie jetzt Panik?”
“Nein, aber ich werde vorläufig kein Schweinefleisch mehr essen.” Darüber darf man sich dann mokieren.

Aber das wirklich Üble ist der Angst-Hype, der in solchen Momenten los bricht und der Selbstläufer an Ergötzungspotential, mit dem alle das Thema beackern: Und kein Medium, das die Sorge im Innersten nicht schürte, mag es noch so scheinheilig beschwichtigen. Denn wer weiss es denn so genau? Am Ende ist das Leben tatsächlich lebensgefährlich?

Der Bund beruhigt: Für einen Viertel der Bevölkerung besteht schon ein Lager an Tamilflu (nur für einen Viertel?). Tipp: Kaufen sie nicht Tamilflu, kaufen sie keine Schutzmasken. Kaufen Sie Roche-Aktien.

Der Hype wird damit begründet, dass es sich hier um ein Virus handelt, das auch von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Wie die Grippe auch. Fürchterlich.
Noch hat es keinen Verdachtsfall in der Schweiz gegeben. Aber schon fünf Menschen wurden daraufhin untersucht! Eine Dame vom Flughafen Zürich erklärt, wie sie die Flyer der Gesundheitsbehörden auflegen könnte und dass im Notfall alle Passagiere eines Fluges angeschrieben bzw. kontaktiert würden, wenn …

Beda Stadler, ein Immunologe, findet, dass in diesem Fall das Bundesamt Recht getan hätte, so vorsichtig weil früh zu informieren, denn man wüsste ja wirklich nicht… und dann braucht er doch tatsächlich dieses Bild: Er vergleicht die Situation mit einem Mann, der mit einer Atombombe um den Bauch an der Kreuzung steht…
Nein, ich habe mich nicht verhört und Sie haben sich nicht verlesen. Beda Stadler ist dafür bekannt, dass er bei jeder Gelegenheit die Theologie als Machtinstrument einer Angst verbreitenden Kleriker-Kaste geisselt. Er preist die Wissenschaft als einzige sinnstiftende Alternative zu jeder Religion…

Immerhin merkt er in seinem heutigen Statement am Radio noch an, dass, wenn dann alles nicht so schlimm sei, das immer noch das kleinere Übel bedeutete. Schon mal was von der Abstumpfung durch Hysterie gehört? Schon mal darüber nachgedacht, wie wir uns für alle Länder disqualifizieren, deren Bewohner tatsächlich Existenzängste kennen?

Ach ja. Abends um halb sechs habe ich zum ersten Mal auf einem Sender folgendes gehört:
Wie steht es eigentlich um die Menschen in Mexiko? Da ist die Seuche ausgebrochen bzw. festgestellt worden. Zu spät festgestellt worden. Hundert Menschen sind gestorben. Nicht zuletzt, weil sie nicht rechtzeitig behandelt werden konnten bzw. das Virus nicht geortet wurde.
Wie wär’s, wenn wir uns erkundigen würden, wie da vor Ort zu helfen wäre? Statt uns zu fragen, ob wir gleich zwei Packungen Mundschutz kaufen sollen, statt nur eine?

Übrigens:
Der Bundesrat bereitet sich auf die Ausrufung der Pandemie-Plan-Phase 4 vor. Für die Schweiz wäre dies eine Premiere. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) rät zum Kauf von Schutzmasken..
Also, Sie haben völlig Recht. Rennen Sie, so schnell sie können!

Aber fragen Sie sich derweil auch, weshalb es so wenig braucht, dass Sie Angst bekommen? Und wovor? Könnte es sein, dass wir schlicht verlernt haben, dass Leben auch bedroht sein kann? Dass wir gar nicht richtig leben, nie gelebt haben, und darum solche Weckrufe geradezu brauchen, dass wir bemerken, was das Leben bieten könnte? Aber wenn das Getröte vorbei ist, Gott sei Dank, kann man endlich weiter machen wie zuvor. Verloren hat man dann nur eine Woche unbeschwertes Trödeln in der eigenen Gedankenlosigkeit.

Verzeihung, wir sind einfach bescheuert. Absolut meschugge.

Aber da war ich schon zu Hause. Meine Frau kam nicht an die Tür. Sie sass auf dem Sofa. Und hat gelesen. Ein Buch. Ohne Mundschutz.