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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Deutsche und Schweizer im Sandkasten?

∞  15 Juli 2008, 19:36

Während am einen Ort die Gründe für die mangelnden Einnahmen in Web2.0-Projekten hinterfragt werden (sehr guter Artikel von Andreas Göldi), kabbeln wir uns an anderer Stelle wieder mal zum Lieblingsthema der letzten Zeit: Zur Frage, was Deutsche und Schweizer trennt., oder zumindest nur neben einander statt mit einander leben lässt.

Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Vielleicht eine ganze Menge. Wer eine Idee im Internet etablieren will, wer Nutzer sucht und Lieferanten, der tut gut daran, nicht zu glauben, dass die Idee allein sich durchsetzen wird. Und wer im Internet in Foren, Kommentaren und Blogartikeln das Verhältnis zwischen Deutschen und Schweizern “thematisiert”, ohne es zu reflektieren, der schürt nur einen Konflikt. Es ist leicht, im Internet das verkannte Genie zu werden oder als Biedermann zu erscheinen und doch ein kleiner Brandstifter zu sein.

Dabei hätten Web2.0-Konzepte vor allem ein grosses Potential: Sie sind das Paradies für jeden Persönlichkeitstyp, der zum Vermittler geboren ist. Ein Vermittler oder Agent verkauft stellvertretend für einen Hersteller dessen Waren auf einem Zielmarkt. Er entscheidet sich für ein Produkt und sieht den Markt dafür, den er dann gewinnen will. Erst erklärt er sich dem Lieferanten als der richtige Partner, dann steht ihm das Gleiche beim Kunden bevor. In beiden Fällen hat er zu Beginn nicht mehr in der Hand als ein bisschen Zeit, das ihm gegönnt wird. Bestenfalls. Und hat er Erfolg und es kommt zu Interaktionen zwischen Kunde und Hersteller, so besteht die grosse Kunst des Vermittlers darin, für beide seinen Wert zu behalten und in deren Augen nützlich zu sein (nur Web-Supergurus würden hier stattdessen das Wort “unverzichtbar” einsetzen).

Mich interessieren nun aber an den Web2.0-Möglichkeiten nicht erst die Businessmodelle und Chancen. Mich interessieren die Verständigungspotentiale. Womit ich wieder bei unserem Verhältnis zu den lieben Deutschen angekommen bin.

Wir stellen einmal fest:
Schweizer und Deutsche leben als Nachbarn oder im gleichen Land als Gast oder Gastgeber seit Jahrzehnten im besten Fall neben einander her, aber sicher nicht mit einander. Beide haben Grund, sich zu ärgern, werden sie doch von der anderen Seite nur in Stereotypen wahr genommen:
Der Deutsche spricht schnell, ist grob, herablassend bis arrogant, unsensibel, zackig, herrisch, man versteht ihn kaum, und wehe, er spricht eine Fremdsprache, dann versteht man ihn gar nicht mehr. Er passt sich nicht an, merkt nicht mal, dass er sich unmöglich macht und sucht immer nach dem billigsten Schnäppchen.
Der Schweizer ist ein Opportunist, der sich aus allem raushält, mit dem Geld anderer beste Geschäfte macht, sich hinter der Neutralität versteckt, jeden Tag Käse und Schokolade isst, in einem Land wohnt, wo Milch und Honig fliessen. Er ist langsam, behäbig, eher wortkarg, in der Regel ein bisschen kauzig aber ganz niedlich und kein wirkliches Ärgernis in seinem kleinen Alpenreduit. Mit etwas Glück und je nach Laune nehmen wir ihn fast ernst.

Tja, und so kann das nun weiter gehen die nächsten zweihundert Jahre lang. Und wird es wohl ziemlich sicher auch. Dabei hängt so Vieles einfach daran, dass wir viel zu wenig von einander wissen. Wir stossen uns dabei gegenseitig an Verhaltensweisen, mit denen wir aufgewachsen sind, die ganz natürlich zu unserer Erziehung gehören. Hätte man das mal auseinandergebröselt, würde aus der Ablehnung womöglich Neugier:

Ein Beispiel:

Telefoniert der Schweizer, so stellt er sich erst ausführlich vor und kommt nicht sofort auf den Punkt. Das wäre unhöflich. Man fällt nicht mit der Tür ins Haus. Ist das Thema dann aufgegriffen und abgehandelt, sagt man auf Wiedersehen und wünscht sich noch einen schönen Tag.

Telefoniert der Deutsche, so kommt er sehr schnell zur Sache. Es gehört sich nicht, dem anderen die Zeit zu stehlen, und es scheint einigermassen lächerlich und unehrlich, lange um den Brei herum zu reden, wenn man doch DAS EINE will, weshalb man angerufen hat. Also wird das auch subito aufs Tapet gemacht und dann ist gut. Folglich sagt man sich Tschüss, und fertig ist’s.

Beiden Sichtweisen kann man nachvollziehen, und so, wie man aufgewachsen und das gelernt hat, so wird einem das auch natürlich vorkommen. Wenn wir das von einander wissen, können wir in den Unterschieden genau den Reiz ausmachen, den es bedeuten kann, mit einander zu tun zu haben und zu erkennen: Heissa Rosaria, so geht’s also auch?

Was das nun mit Web2.0 zu tun hat? Nun, einmal kann man die Kuriositäten und Spezialitäten eines Landes aus seiner eigenen Warte beleuchten und so den Blick für andere Wahrnehmungen schärfen, wie es Jens-Rainer Wiese mit seiner Blogwiese schon so lange so reizvoll macht. Oder aber man überlegt sich, wie ein solches Thema in einem Gemeinschaftsportal abgehandelt werden könnte, bei dem die Leser aus den verschiedensten Ecken abgeholt werden und eigenes beisteuern könnten:

Angenommen, es finden zusammen:

Ein Deutscher, der in der Schweiz wohnt und arbeitet
Ein Schweizer, der in Deutschland wohnt und arbeitet
Ein Schweizer, der nach Deutschland geheiratet hat
Ein Deutscher, der in die Schweiz geheiratet hat
Ein Deutscher, der grenznah zur Schweiz wohnt
Ein Schweizer, der grenznah zu Deutschland wohnt

Und lässt die Personen nun zusammen über Ihre Erfahrungen mit den anderen bloggen. Und über die eigenen Gepflogenheiten in gesellschaftlichen Dingen.

Heissa, mag man nun denken. Das gäbe ja eine Chropfläärete, die sich gewaschen hat. Und es gäbe gehässige Kommentare. Mit Sicherheit.

Und nun beginnt die Arbeit. Für das Ziel der Verständigung bedeutete dies, dass die Schreibenden bewusst lernen wollen, die Lesenden vielleicht nicht, die Betreiber und Urheber aber in jedem Fall stets und überall bereit sind, mit Anwürfen umzugehen, sich und das Projekt zu erklären, zu korrigieren, zu redigieren, zu berichtigen, auszuführen.

Unterstützt würde man durch so manche überraschende Erfahrung und die Erkenntnis, dass hinter den Abstossungen in den Äusserlichkeiten sehr viel mehr Gemeinsames schlummert, als wir vermuten und in der Regel zugeben wollen.

Web2.0 bedeutet also in keinem Fall, einfach nur einen Sandkasten bereit zu stellen und zu warten, bis sich die Leute drängeln, weil sie auch mitmachen wollen. Und wenn sie dann da sind, die Kids und Leute, dann braucht es Regeln, Konzepte, Spielzeug, Ergänzungen. Neuen Sand.

Dass es theoretisch allerdings möglich ist, für fast alles einen interessanten Sandkasten zu bauen, ist eindeutig.

Projekte nehmen nur in den eigenen Träumen als Selbstläufer Fahrt auf. Aber eine Idee, ein Ansatz, ein heraus geschältes Problem, das Vielen unter den Nägeln brennt, kann eine Art Brennstoffzelle sein, die, einmal erschlossen, genutzt werden will und immer wieder reizt, das Optimum aus ihr heraus zu holen.

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Der Artikel entstand nicht zuletzt auf Grund einer neu belebten Diskussion zu einem Artikel von BloggingTom am 9. Juni 2008


Und dann noch dieser bildliche Beitrag zum Thema:




Bildquelle: Der sehr zu empfehlende Fotoblog dongga.ch