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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Von Ansprüchen und Urvertrauen

∞  10 März 2013, 12:30

Wo gibt es Urvertrauen? Wie erwirbt man es? Wer hat es und warum? Wo kommt es her? Was ist damit überhaupt gemeint?

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Keine dieser Fragen kann ich für Sie wirklich beantworten. Ich muss das, wie Sie für sich, für mich selbst versuchen. Welchen Blick voraus kann ich haben? Welchen Vertrag möchte ich mit dem Leben aushandeln? Wann bin ich glücklich?

Welche “Wenn-dann”-Versprechen an mein Schicksal habe ich schon formuliert und angeboten? Welche Wünsche habe ich? Und wie sehr glaube ich an Machbarkeiten?

Nicht nur mir fällt auf, dass jede nachrückende Generation in den letzten zweihundert Jahren mehr Möglichkeiten hatte als die vorhergehende, bessere Lebensumstände, mehr Wohlstand, Komfort. Mit den Möglichkeiten aber wachsen die Begehrlichkeiten mit. Wir rangeln um Positionen. Das Auto ist dann besonders schön, wenn wir es toller finden als die Kiste des Nachbars. Wir kommen einfach nicht raus aus diesem Muster, nachdem wir “Mehr” haben müssen. Oder eben alles. Frauen, die als Geliebte, Mutter und Chefin brillieren müssen, Leben die ewig dauern sollen, Krankheiten, die nur Fehler der Natur sein können, und der Tod? Ihn nennen wir, auch in Feuilletons, immer mal wieder “einen Skandal”. Die Rebellion des Einzelnen gegen ein bestimmtes Schicksal macht die Gesellschaft zum Aufbegehren gegen jede Art von auerlegtem Verdikt. Wir erlauben uns heute den Kampf gegen jede Art von Einschränkung, gegen unser Vergehen und Sterben, mit schlicht allen Mitteln, ganz vergessend, ja nicht fühlend, dass wir ein Teil dieser Natur sind, die wir bekämpfen.

Gentechnik, Stammzellenforschung – die Heilung kommt aus dem Labor und ist am Ende in Pillenform zu konsumieren. Auf dem Weg sind wir bereit, alles hinter uns zu lassen, was uns mit Schwäche konfrontieren könnte – bei der Organspende aber wird es sehr körperlich, sehr real, mögen wir auch noch so theoretisch darüber diskutieren, wann denn der Tod wirklich der Tod ist. Dieser Bote, vor dem wir uns so sehr fürchten, wird uns als potentieller Spender als Onkel verkauft, den wir gar nicht wahrnehmen, der eben mal zu Besuch gekommen ist und uns gleich mitgenommen hat. Wir sollen nur noch Hülle sein, die das Leben für einen anderen bedeutet?

Die aktuellen Diskussionen rund um den Umgang mit möglichen Organspenden stellen jedem Einzelnen von uns einen Spiegel vors Gesicht: Wie halten wir es selbst mit der Vorstellung, mehr oder weniger tot ausgeweidet zu werden – oder als Nutzniesser auf einen solchen Vorgang zu warten? Die medizinische Stossrichtung vereinigt sich immer früher oder später hinter der Legitimation, im Dienst der Menschen das zu tun, wonach diese Menschen verlangen. Und das ist immer das Leben, oder ein Rest davon. Meinen sie. Doch bei der Annahme, ein Sterbender sei ohne ausdrückliche Erklärung des Gegenteils mit der Organentnahme einverstanden, hört – noch – der Lebensdrang für Viele auf. Erstaunt kann man aber lesen, dass längst Operationen üblich sind, in denen Schläuche eingesetzt werden, um Organe von bald Hirntoten dann sofort an Maschinen anschliessen zu können… Der Mensch in seiner Lebensgier ist unersättlich und ohne unverbrüchlich geltende Maximen.

Wir müssen uns selbst gar nicht in diese Horrorszenarien denken. Wir sind alle mittendrin, auch dann, wenn wir für uns selbst einfach entscheiden müssen, was wir für ein erfülltes Leben brauchen: Alles? Oder zumindest mehr, als wir gerade haben? Man stelle sich vor, wir würden sagen: Ich brauche weniger, als ich habe. Ich brauche im Grunde sehr wenig. Man stelle sich vor, wir würden mit unserer Freiheit, nach dem Sinn des Lebens zu fragen, mehr an Antwort finden, als eine neue Kreditkarte. Man stelle sich Frauen vor, die einfach Mutter sein und sich vollständig fühlen können, Väter, die nirgends so gern sind wie an der Seite ihres Kindes, Chefs, die sich durch das funktionierende Team bestätigt genug sehen, Angestellte, die dem Unternehmen Zeit und Einsatz schenken und dafür respektiert werden – und Menschen in allen gesellschaftlichen Positionen, die ihren Wert in freien Begegnungen immer wieder erkennen können. Selbstverwirklichung – kein Wort haben wir mit so wenig echtem Sinn erfüllt wie dieses. Vielleicht auch deshalb, weil wir alle so viel kommunizieren, ohne wirklich mit einander zu reden?

Bevor Sie also wieder netzwerken – umarmen Sie die Menschen, für die Sie wirlich nicht mehr tun müssen, als da zu sein. Das ist die Wirklichkeit, welche Ihr Selbst sucht und in der es leben will. Und dazu kann Ihnen keine fremde Seele verhelfen: Sie müssen selbst bei Ihnen wohnen wollen, ganz egal, welchen Anstrich die Wohnung nach aussen bekommen mag:

Die wahrhaft Starken unserer Zeit, die Energiezellen sind jene, die hinstehen können, um zu sagen: Mehr kann ich nicht. Ich bleibe bei mir und lebe so, dass das so bleibt. Wenn man dies erfährt, die Gunst kennen lernt, bei Veränderungen gelassen bleiben zu können, wenn man sich unter seinen Liebsten die Bestätigung schenkt, völlig in Ordnung zu sein, unabhängig von Leistung, Reputation, Rollenverständnis, Erwartungserfüllung – dann schenkt man sich jene Form von Ruhe, in der man Urvertrauen lernen kann:

Nichts in unserem tiefsten Inneren rebelliert am Ende gegen Veränderung, braucht die Sicherheit äusserer Umstände. Wenn wir dem Lauf des Lebens mit Demut begegnen können, wird die Freude, die wir erfahren, alles Leid aufwiegen, das uns nicht erspart bleibt.