Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Thinkabout wird alt. Auch er.

∞  30 Mai 2010, 20:35

Da ist die 60jährige Leiterin der Rechtsabteilung eines grossen Konzerns, die von einem Tag auf den anderen in den vorzeitigen Ruhestand gedrängt wird, sich erst einmal aus Depressionen befreien muss, bis sie eine neue wundervolle Aufgabe in der Schuldnerberatung findet. Da gibt es einen alten Berufsoffizier, der Aufgaben braucht, so lange er atmen kann, und darum seinen Ruhestand mit 57 nur als Zwischenstopp nimmt, bevor er mit Teilaspekten seines Beruflebens neu durchstartet. Und da gibt es den Herrn Oberstaatsanwalt, der mit 65 plötzlich merkt, dass er ja pensioniert wird, findet, dass das nicht geht und nun vor dem Europäischen Gerichtshof gegen seine Pensionierung klagt.

Irgendwann fällt in der Talkrunde der Satz von “Menschen, die nicht mehr länger mitten im Leben stehen”. Er ist entlarvend und schält unser Wertesystem frei: Denn in dieser Runde wirken genau jene “Alten” sehr lebendig, welche ihre Sinnstiftung selbst an die Hand nahmen und dabei so ganz im Nebenhergehen Tempo und Gewichtung den eigenen Bedürfnissen anzupassen wussten.
Mitten im Leben – das ist mitten bei sich selbst. Oder wäre. Noch nie wurde man mit einem so jungen Lebensgefühl pensioniert. Dennoch ist es doch falsch, wenn man meint, so weitermachen zu müssen, wie bisher. Wer aber über seine Aufgaben hinaus Wege findet, eine Ausgeglichenheit zu finden, die nicht davon abhängig ist, dass etwas bleibt, der also alles daran setzt, sich selbst zu verändern bzw. das Äussere dem Inneren anzupassen, der wird, wenn er ganz ehrlich ist, kaum einfach weitermachen wollen.

Und wirklich beeindruckend sind jene Menschen, die zurück blicken ohne Wehmut und voraus blicken mit Klarsicht, und im Moment leben und atmen und strahlen. Sie machen uns doch Hoffnung und geben Beispiele, anhand derer wir uns selbst immer wieder klar machen sollten: Wir sind nicht die Summe unserer Aufgaben, nicht das, was wir erreichen, nicht die Anerkunnung im Beruf. Denn immer ist da die Frage: Und was kommt danach? Am Ende stehen Fragen, die wir uns selbst beantworten müssen – und keiner kann uns beteuern, dass wir schon richtig getan haben. Wir müssen es selbst glauben. Und am Ende werden wir es wohl wissen.
Ich bin in diesen Tagen per Mail wieder mal darauf aufmerksam gemacht worden, dass ich viel älter wirke, als ich bin. Und tatsächlich fasziniert mich das Alter mindestens genau so wie die Jugend. Als lebensmittelständischer Endvierziger stehe ich dazwischen. Und sehe mich wohl mehr als in jeder anderen Lebensphase genau so: Dazwischen.

Es ist auffällig, dass, weil ich Tagesfreizeit habe, mein Bekanntenkreis älter wird. Ich bin viel mehr als früher von älteren Menschen umgeben, von Vorruheständlern oder Pensionären. Das ist die ganz sachliche, logische Erklärung. Aber es gibt eine weitere:
In meinem Leben haben alte Menschen immer eine grosse Rolle gespielt. Meine Cousinen habe ich kaum gekannt, meine Grossmütter aber waren jedes Wochenende nicht weit. Eine alte Frau Bänninger hat uns Kinder immer wieder auf dem Spielplatz besucht oder Kuchen verschenkt, und ich habe als Junge einen blinden Mann in einem Altersheim für Bedürftige besucht. Und immer wieder tat ich dies freiwillig und aus einem grossen Respekt für diese Menschen und ihre Lebensaufgabe: Ich begriff, welche ungeheure persönliche Errungenschaft es sein muss, dem Altersschmerz den persönlichen Frieden einer inneren Versöhnung mit allem was war, ist und kommt, entgegen stellen zu können.
Der alte blinde Mann dürfte seit mehr als dreissig Jahren tot sein. Ich weiss noch nicht mal seinen Namen. Und er war sehr, sehr einsam. Aber ich habe ihn nie vergessen. Und das ist keine Leistung. Es ist vielmehr so, als würde er mich jeweils an unsere Begegnungen erinnern, und mich ermahnen. Da ist kein Drohfinger, eher ein Lächeln über diesen oder jenen dummen und unnötigen Ärger. Und ein weiterer Baustein im Lehrstück, die Veränderungen und Brüche, das eigene Älterwerden, das längst begonnen hat, anzunehmen und zu leben. Und wenn ich darin ein belebendes Element inmitten meiner Bekannten abgeben kann, dann gebe ich ja nur zurück, was ich bekomme – und das Vergügen auf dem Tennisplatz ist dann gross, wenn auch ich jüngerer Spund einem gut gespielten Ball vergeblich hinterher hetze.

Ja, verflixt, wir werden alle später alt, aber das ist kein Grund, zu vergessen, dass es passiert. Und es fiele uns wohl vieles leichter, wenn wir unseren Gedanken mehr Raum gäben und voraus antizipierend aktiv gestalten würden, was in jedem Fall kommt: Der Abtritt aus der vermeintlichen Mitte des Lebens, und der Eintritt in jene Welt, die bei uns bleibt. Unsere wirkliche eigene.
Dazu gibt es auch entwaffnende praktische Vorschläge, wie jene des Ex-Berufsoffiziers, der vorschlägt, ältere Menschen sollten in ihren beruflichen Funktionen schon länger weiter machen, wenn sie es denn wollen, aber vielleicht beratend oder eine Führungsstufen tiefer – wo mit mehr Zeit mehr ausgebildet und gefördert werden könnte -mit deren Hilfe. Die Befriedigung, gebraucht zu werden, kann sich so allmählich immer mehr nach innen richten – und jene zwischenmenschlichen Gewichtungen bekommen, die wirklich zählen. Und dann fällt die Veränderung plötzlich gar nicht mehr schwer und kann sogar eine Befreiung sein.


Und wer weiss: Vielleicht ist es dann auch einmal eine Erlösung, nicht mehr gebraucht zu werden…

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Die angesprochene Talkshow: Alte, ab aufs Altenteil
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