Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Offen für mehr Lebensqualität

∞  23 Januar 2012, 17:00

Nordrhein-Westfalen prüft den Rückschritt, der vielleicht ein Fortschritt wäre: Die Verkürzung der Ladenöffnungszeiten und damit frühere vorgeschriebene Ladenschlusszeiten abends an den Werktagen und am Wochenende.

Da haben wir sie wieder, die Diskussion rund um die so genannte Lebensqualität. Natürlich werden die üblichen wirtschaftlichen Sachzwänge vorgekehrt und mit dem Verlust von Arbeitsplätzen gedroht oder auf die Attraktivität dieser Arbeitszeiten für Teilzeit-Jobsuchende hingewiesen. Im Artikel [gefunden via mycomfor] auf welt.de fehlt natürlich nicht der Hinweis, dass gerade Verkäuferinnen diese Abendjobs suchten, weil

“dann ihr Partner auf die Kinder aufpassen könne”.

Was liegt wohl im Grossteil der Fälle näher: Die absolute Notwendigkeit eines Zusatzverdienstes aus wirtschaftlicher Not oder ein kleines Stück vermeintliche Eigenständigkeit der erziehenden Mütter, die damit zum Zweitauto beitragen? Was verschlagworten wir mit dem Begriff Lebensqualität? Dass ich in unserem verschlafenen Pendlerquartier an der Tanke bis abends um elf noch Chips kaufen kann – oder ein Leben, das um diese Zeit Ruhe für alle vorsieht – und so viel Voraussicht und Lebensplanung, dass die Einkäufe zuvor gemacht werden können?

Die Frage muss politisch beantwortet werden – und wird es auch, schlussendlich nach wirtschaftlichen Kriterien. Alle anderen Beurteilungspunkte sind “weicher” Natur, auf die wir selbst offensichtlich sehr ambivalent reagieren. Daraus resultiert dann der Schritt durch den Notausgang: Freiheit für den Bürger, das Unternehmen, jeder soll selbst entscheiden können.

Und dann schaue ich fern und bekomme einen “Bericht vom Land” vorgesetzt, bei dem die Familie sonntags am Morgen in die Kirche geht. Oder zum Frühschoppen. Oder auf Familienbesuch. Es gibt oder gab Zeiten der Arbeit, der Ruhe, es gab einen Rhythmus, in dem man sich auch rituelle Begegnungspunkte schaffen konnte. Man ruhte. Pflegte auch Gemeinschaft. Bekam einen dafür fest vorgesehenen Raum.

Alles war bei unserer frühen Reise nach China 1985 exotisch. Nichts aber hat auf mich einen so starken Eindruck gemacht (weil die Auswirkungen im gesellschaftlichen Alltag so leicht zu beobachten waren) wie der Umstand, dass in den Familien jedes Mitglied an einem anderen Tag frei hatte. Das war praktisch, hiess es, denn so war immer jemand da, der die Hütedienste für die Kinder übernehmen konnte.
Auch unsere “Wahl” freier Ladenöffnungszeiten ist eine schleichende Veränderung in diese Richtung, hin zu einem Modell, in dem es möglichst vielfältig möglich sein soll, für seine pekuniären Bedürfnisse zu sorgen – als Konsument wie als Jobsucher. Liegt darin nicht auch eine stille Kapitulation? Das Zugeständnis, dass wir keine Gemeinschaft mehr haben, welche gemeinsame freie Zeit braucht und geniesst und sie nicht durch spontane, möglichst komfortable Konsumgänge “füllen” muss?