Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Nihilismus ist nicht lebbar

∞  9 Mai 2008, 20:02

Erliegen wir an allen Fronten vor den Formen der Verneinung? Bleibt nur das Chaos? Und damit Fatalismus als letzte Schlussfolgerung? Wie, wenn Gott uns zwar die Antworten schuldig bleibt (was für eine Formulierung!), er aber am Ursprung aller unserer Fragen steht? Und sonst noch ein paar Fragen, Ideen, Gedanken, die Sie hoffentlich genau so spannend finden wie ich.
Ich habe in Amsterdam häufig an die Diskussionen und Texte denken müssen, die ich in letzter Zeit gelesen und verfolgt habe.

Es scheint mir, dass wir in unserer Gesellschaft an einem Punkt angekommen sind, an dem wir allen Formen der Verneinung zu erliegen bereit sind.

Religion? Machtinstrument der Kirche, Ursprung vieler Kriege, Deckmantel der Mächtigen, Betrug am Volk.

Gott? Nicht zu sehen, nicht zu fühlen, nicht zu beweisen. Ohne Einfluss, sein Wirken nicht sichtbar, also nicht vorhanden. Seine Statthalter sind schwache Zeugen. Sie verschaffen sich kein Gehör und geben schon gar kein Beispiel.

Ideologien? Gesellschaftsentwürfe? Alle politischen und sozialen Gesellschaftsmodelle haben sich zu Tode gewirtschaftet. Am Geld, das eine vermeintlich nicht manipulierbare Bewertungsskala hergibt, lässt sich zeigen: Kein einziges System verteilt das Geld gerecht und lässt es gleichzeitig zumindest im Sinne des Substanzerhaltes genügend weiter arbeiten. Die Mechanismen von Angebot und Nachfrage frei wirken zu lassen, scheint am wenigsten ungerecht zu sein. Mehr behauptet niemand, und das empfinden nicht wenige als fatal genug. Ideologien sind allesamt zu gescheiterten Utopien geworden.

Mitbestimmung und Menschenrechte? Irgend jemand hat sie mal für uns erkämpft. Wir leben höchstens in der Angst, uns könnten diese Dinge genommen werden, während wir an Wahlen und Abstimmungen dennoch nicht teilnehmen oder nur dann, wenn die Angst zu gross wird. Und wir definieren unser Wohlsein ausschliesslich über unseren Wohlstand und die Möglichkeiten des Konsums. Jede andere Massgabe hat sich als Geschwurbel erwiesen. Was nicht auf einem Preisschild Platz hat, taugt nicht als Wahrheit.

Alle diese Dinge werden in intellektuellen Artikeln behandelt. Aus den Gesellschaftsanalysen ist ein allseits tauglicher und sich immer wiederholender Hang zu einem Nihilismus heraus zu lesen: Wir beginnen uns an der Schlechtigkeit der Welt und den menschlichen Schwächen zu delektieren, und die Beobachter, die dies alles feststellen, wetteifern unter sich, uns den blinden Spiegel vorzuhalten, in dem wir uns lächerlich machen. Und dabei bekommen diese “Analysen” selbst eine narzisstische Färbung:

Seht her, wie klar ich die Welt sehe und glaubt mir, wie sehr ich daran leide oder mir als Überlebensstrategie selbst nur die zynische Pointe bleibt!

Das Chaos als Gesellschaftsbefund ist salonfähig geworden. Und wenn es das Chaos ist, das als Allerletztes sichtbar bleibt, dann darf ganz offensichtlich auch unsere Schlussfolgerung in diesem Fatalismus verwurzelt bleiben und sich darin gefallen, wie ein Wanderprediger die Schlechtigkeit des Niedergangs zu bejammern.

Es war schon immer einfacher, sich in seinem Selbstverständnis als Kritiker der negativen Botschaft zuzuwenden:
Welcher Kritiker geht denn das grössere Risiko ein? Derjenige, der lobhudelt oder derjenige, der in tausend Stücke zerreisst? Was verbindet der Kritiker denn heute mehr denn je mit seiner Aufgabe? Was er kritische Hinterfragung nennt, ist viel zu oft vorauseilende kritische Voreingenommenheit.

Religion! Was ist sie ohne die Gläubigen? Niemand muss sich vorsagen lassen, was er nicht selbst erfahren kann. Als gesammelte Wissens- und Erfahrungsquelle gläubiger Menschen und Ihrer Berichte bietet jede Religion einen reichen, ja überreichen Erfahrungsschatz. Und noch immer ist sie auch das grosse Modell einer Gemeinschaft der Gläubigen – sie könnte sich auch aus sich selbst heraus organisieren und beleben.

Gott! Denken wir ihn konsequent, und schauen wir dabei auf uns selbst, so ist unser Problem vor allem, dass wir ihn vermenschlichen. Wir müssen verstehen, sehen, wissen. Wir haben keine Geduld mehr für die Fragen, die dem Glauben voraus gehen. Gott garantiert keine Antworten. Aber vielleicht steht er am Ursprung unserer Fragen.

Gesellschaftsmodelle! Was wir als Liberalismus gegen alle Gesellschaftsentwürfe ins Feld führen, ist inhaltlich nichts mehr als Abgrenzung. Den Raum füllen wir aber je länger je mehr nur noch durch Konsum. Auf dem Sterbebett und im Kampf um die Gerechtigkeit für die Schwächeren, an die wir unser Herz vielleicht auch vergeben haben, bevor wir selbst Schwäche erfahren, genügt dies nie. Uns nicht, für uns nicht und für spätere Generationen auch nicht. Idealistische, humanitäre und humanistische Lebens- und Gesellschaftsmodelle sterben nicht aus. Genau so gut könnte die Liebe aussterben und nicht mehr versucht werden. Und davon sind wir weit entfernt, sie nicht mehr zu wagen. Es kann nämlich sein, dass sie uns einfach überfällt, diese Liebe. Sie ist nicht ausrottbar.

Mitbestimmung und Menschenrechte! Sie sind nicht mal durch Genügsamkeit verloren. Sie werden sofort wieder ein Thema, wenn wir wieder einen Stolz haben, den man verletzen kann. Wir sind nicht so tot, wie wir glauben. Wir sind nur unheimlich satt und selbstzufrieden geworden. Da mögen wir noch so sehr den Verlust aller Pfründe befürchten – wir jammern als Gesellschaft jedes Jahr auf noch höherem Niveau, und die Gesetzmässigkeit, dass der Wert des Jammerdezibels proportional höher ist, je besser es uns geht, ist niemandem zu verübeln. Es ist die Mentalität jener, die hinter sicheren Mauern leben und dort bleiben wollen. Und es könnte doch sein, dass ein Grund des Unbehagens auch darin liegt, dass wir schlicht selbst nicht begreifen können, wie es möglich ist, dass es uns so gut geht?

Wir können wieder lernen, grössere Entwürfe zu wagen. Und wir werden es, wenn wir müssen. Zynisch gesagt, könnte man nun anmerken: Spätestens dann, wenn damit Geld zu verdienen ist. Positiv könnte man werweissen: Vielleicht dann, spätestens dann, wenn die Welt wirklich zu einem Dorf geworden ist, werden wir neu miteinander reden müssen. Noch ist nicht bewiesen, dass wir es nicht können. Und vor allem ist eines nicht bewiesen: Dass die Welt nicht doch eine Ordnung haben könnte, in der wir Menschen umsetzen, was die Natur vorgibt. Auch im Umgang mit unseren Nachbarn. Wir brauchen dafür Regeln.

Vielleicht kommt die Zeit, in der wir nicht mehr die Antworten auf alle Fragen suchen, sondern die Kunst, offene Fragen auszuhalten. Wie wäre es mit einem Wettstreit, bei dem der Ruhm jenen gehört, die im Sinne aller die richtigen Fragen ins Zentrum rücken?
Und die Ernte? Das wären dann Lösungen, die auch mit dem Bauch gefunden wurden, nicht nur mit dem Kopf. Und die sich erproben lassen, im Lebensversuch, der nicht vorgedeutet, sondern gelebt wird. Wer weiss, wo und wie Gott nicht doch die Hand im Spiel hat?

Wann haben Sie Ihre nächste Begegnung? Mit einem Menschen, einer Mahlzeit, einem Drink, einer Brise frischer Luft, einem besonderen Duft? SIE bestimmen, welche Färbung Ihr Leben vor Ihrem Auge hat. Sie bestimmen seine Realität mit. Auch dies ist eine Form der Ideologie, von Glauben und göttlicher Kraft: Die Liebe zum Leben, zu all jenen Eigenschaften in uns, die erst dann zum Blühen kommen können, wenn wir sie nicht totreden und verneinen: Die Liebe zwischen Menschen. Versuchen Sie erst gar nicht, sie in ihrem Denken und Fühlen auszurotten. Es gelingt Ihnen nicht. Schon gar nicht auf Dauer.

So viel Zeit haben Sie gar nicht. Werden Sie nie haben. Gott sei Dank nicht. Auch dann nicht, wenn Sie und ich immer älter werden.

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