Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Nicht integriert - und das im Spital

∞  30 Oktober 2010, 20:20

Ende November stehen in der Schweiz wieder Volksabstimmungen an, über Fragen der Steuergerechtigkeit und – natürlich – über die so genannte Ausschaffungsinitiative der SVP (nein, nicht die SVP will sich ausschaffen).

Wenn man krank ist, wenn ich deshalb vor allem neue Menschen kennen lerne mit ganz anderen Geschichten – und Fokussierungen, die solche Aufgeregtheiten so sehr relativieren, dann mag ich hier mich (noch) nicht in die Debatten einsteigen. Was mir in ständigen Spannungsfeld zwischen Einheimischen und Zugereisten aber auffällt, ist folgendes (das auch im Spital zu beobachten ist):

Eigentlich ist alles Leben Begegnung. Ob man zusammen oder parallel lebt, wie viel Schnittmenge man auch immer mit einander hat: Entscheidend für den Frieden ist eigentlich, ob diese tatsächlichen Begegnungen Stress verursachen (auf beiden Seiten), oder ob sie aus freien Stücken erfolgen können. Neu an den aktuellen Debatten zur Ausländerintegration ist ganz offensichtlich die mittlerweile in fast allen politischen Lagern formulierte Aufforderung an die Einwanderer, sich mittels offensichtlich messbaren integrativen Bemühungen dem Gastgeberland anzupassen. Hier sind Tabus im öffentlichen Ausdruck gefallen – und tatsächlich mag sich manche Haltung, die dahinter steht, auch verändert haben. Oft wird eine Radikalisierung befürchtet – aber ob diese zu greifen vermag, lässt sich an tatsächlichen Gegenfragen vielleicht zukünftig leichter überprüfen:

Die Forderung nach dem Lernen der Sprache bedeutet, dass auch die entsprechenden Kurse angeboten werden müssen. Tatäschlich ist es doch so, dass wir, so bald wir von den Fremden nicht länger nur die Arbeitsleistung wollen, sondern das Ja zu unseren gesellschaftlichen Werten, wir diese auch vermitteln müssen. Wir begründen also auch eine neue Pflicht, die in dieser Form in der Schweiz in den 60er- und 70er-Jahren im Umgang mit den Gastarbeitern aus dem südlichen Europa überhaupt nicht gesehen wurde. Ja, damals haben wir solche Ausländer so sehr marginalisiert, dass wir allenfalls über das deutsch-südländische Kauderwelsch aus wenigen Dialektbrocken geschmunzelt (oder es missbilligt) haben. Das reicht heute nicht mehr. Der Einwanderungsdruck aus den neuen Einwanderungsländern ist so gross geworden, dass Leistungen gefordert und angeboten werden müssen, die eine Angewöhnung an unsere Lebensweise möglich machen.

Darin liegen vielleicht auch Chancen – dann nämlich, wenn bereits assimilierte Ausländer in solchen Programmen als Lehrpersonen mithelfen, die Hemmnisse abzubauen – und damit die Chance besteht, dass die mögliche Freiheit im gesellschaftlichen Leben auch Bildungschancen aufzeigt, an welche diese Menschen glauben können.

Ich erzähle dazu gerne noch eine Episode auf dem Spital: In einem Vierbettzimmer der Urologie liegen drei Schweizer und ein Mann aus dem Orient. Die Behandlung erfordert beim ausländischen Bettgenossen das Setzen eines Katheters. Das Geschrei ist gross. Es ist für ihn unmöglich, dass eine weibliche Pflegeperson ihn “da unten” berührt. Im Grunde ist überhaupt schon die Gegenwart von “fremden Frauen” in der Pflege für ihn Grund zur Klage.

Sein Unbehagen ist gross, sein Unwohlsein offensichtlich auch: Er schreit Gezeter bei jedem kleinen Wehweh, wie seine Zimmergenossen augenrollend finden. Nichts ist recht, Missmut begleitet jede Dienstleistung.

Für die anderen Männer im Zimmer ist das eine Qual. Sie schütteln nur den Kopf. Das Pflegepersonal verrichtet seine Arbeit. Auf die Verweigerung des Katheters weiss es mit einem Zugang von der Leiste her zu reagieren. Freude kommt dabei nicht auf. In keinem Bett und nirgends davor.

Aber wie wäre es, läge ich in einem Bett in Ankara? Käme ich mit den dortigen Gepflogenheiten gut zurecht? Ich weiss es schlicht nicht. Wir kennen nichts über die Vorgeschichte des Mannes, seine Ängste, die vor dem Spital zu den unseren auf Grund seines Unwissens noch dazu kamen. Dass er mit Aggression darauf reagiert, macht ihn einfach noch einsamer. Es ist eine vertrackte Situation für alle. Das Pflegepersonal lernt aus dem Einzelfall. Es wird bestimmt für solche Situationen geschult. Das Gefühl kompetenter Betreuung wird bei dem Mann in einer späteren Situation aber nur aufkommen, wenn er aus dieser Situation selbst zu lernen versucht. Wenn das Verständnis für seine Reaktionen auf einen Geist trifft, der sich nicht in der Abwehr einnistet, sondern vielmehr erkennt, dass er die gleichen Rechte auf eine gute Betreuung hat – und damit auch dem Anspruch genügen muss, sich einzufügen. Äussert er seine Probleme, die er dabei hat, vernünftig, wird ihm, hoffentlich, ganz anders geholfen werden können, als wenn er in seiner “Boxerstellung” verbleibt.

Das sind mühsame, schwierige, langwierige Prozesse. Sie fordern alle Seiten. Genau das bedeutet Integrationspolitik. Ob das Integration, Assimilation, Anpassung, Opportunismus genannt wird, das mag politisch relevant sein, weil man je nach Formulierung signalisiert, welche Gärtchen wie geschützt werden sollen. In der konkreten Berührung der Kulturen aber, unter den Menschen an sich, zählt nur der Geist der konkreten, realen Begegnung. Und dafür brauchen wir in Geist und Ausdruck eine gemeinsame Sprache.