Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Lebendiger Muttertag auf dem Friedhof

∞  14 Mai 2012, 13:17

Muttertag war auch für mich Grund, endlich mal wieder meine Mutter im Altersheim zu besuchen. Wir haben daraus einen ganz normalen Tag gemacht, der eben doch alles andere als normal war und von dem mir eine Begebenheit noch lange bleiben wird.

Da ich selten da bin, benutzt meine Mutter dann jeweils gerne die Gelegenheit, ein paar Besorgungen zu erledigen, die ihr mittlerweile ein bisschen schwer fallen: Schwergewichtige Einkäufe zum Beispiel – es gibt einen Volg-Dorfladen, der sieben Tage die Woche geöffnet hat – oder, mittlerweile schon ein Ritual, der Besuch auf dem Friedhof bei Paps, zum jährlichen Grabstein-Schrubben. Entsprechend unverschämt glänzt der Stein auch in einer Reihe mit verwitterten Gesellen, als wäre er gestern gesetzt worden – dabei ist das schon sehr bald zwanzig Jahre her.

Das gibt uns Gelegenheit, über Gott und die Welt zu reden, und übers Leben und Sterben. Zwanzig Jahre Alleinsein ist kein Schleck, und das wirklich alt werden auch nicht. Ich bin Mutter überaus dankbar, dass es mit ihr so leicht ist, über diese Dinge zu reden, über das Unvermeidliche, das wir so gerne aussparen. Ich möchte wissen, wie sie voraus blickt, wie sie den Gedanken daran bewältigt, und was ihr wichtig ist. Und ich bemerke sehr wohl, wie genau ich sie beobachte, wie ihre Haltung bei mir nachwirkt und wie ich fühle, dass mir das einmal selbst eine Hilfe sein könnte.
Auch bin ich ihr dankbar, dass ich ganz genau weiss, wie sie über lebensverlängernde Massnahmen denkt und welche Einstellung sie zu ihrem Leben hat. Nichts ist eigentlich unbesprochen geblieben – und alles kann jederzeit wieder angesprochen werden – und das wird es sicher auch immer wieder.
Es ist mit ihr auch absolut nicht schwer, als Gepsrächspartner beim Thema zu bleiben. Es ist gar nicht notwendig, irgendwelche Ausflüchte zu suchen.

Wir reden dann also auch über das eigene Grab und ich erzähle vom Friedwald, den es in unserer Gemeinde gibt. Sie will kein Aufhebens und keinen “eigenen” Grabstein. “Das Schrubben muss dann auch niemand übernehmen.”

Ich lächle und sage nichts: Ich finde, ihre Vorstellungen gehen den meinen eh vor, und ich brauche ganz bestimmt keinen gemeisselten Stein, um mich eines Menschen zu erinnern. Sie zeigt mir die einfachen Urnengräber, und meint, dass das doch auch nichts wäre, so lieblos wirke es und verloren.

Ich erzähle ihr von meiner Beobachtung, dass die eigentlichen Gemeinschaftsgräber auf Friedhöfen meist sehr schöne, ganz besonders friedliche Plätze wären und es da meist aktuellen Blumenschmuck gebe, der ganz anders deutlich mache, dass wir auch im Schicksalsgang des Todes alle den gleichen Weg gingen, wie im Trauern auch, und dass ich finde, dass diese Orte etwas Verbindendes haben, während Einzelgräber noch im Tod die Separation suchen und den hilflosen Versuch darstellen, das Besondere des Einzelnen an einer individuellen Stele festzumachen, als ob man der eigenen Erinnerung nicht trauen wollte.

Sie weiss, wo das Gemeinschaftsgrab auf “ihrem” Friedhof zu finden ist und “will da jetzt mal hin”. Wir wandern also durch den wunderbaren Baumbestand dieses Ortes und sitzen alsbald am Ziel auf einem Bänkchen. Mutter findet die Gemeinschafts-Stele, die es da gibt, zwar “nichts Besonderes”, aber was will man schon hinstellen, an dem möglichst alle zumindest keinen Anstoss nehmen sollen? Es juckt sie in den Fingern, die kitschigen Engelchen, die jemand auf die Stele gesetzt hat, runter zu holen, sagt sie, mit einem Lächeln. Dann ruht ihr Blick auf dem weiten Rund der grossen alten Bäume, die in gehörigem Abstand den Platz umrahmen. Vögel zwitschern, der Verkehr ist ganz weit weg, alles wirkt ruhig und friedlich. “Vielleicht ist ja wirklich Ruhe, danach”, meint sie.

Und ich füge an, dass es vielleicht in gewissen Momenten ein Trost sei, zu wissen, dass das Unvermeidliche allen bevorsteht und alle, die gelebt haben, den Weg voraus gegangen sind.

Sie sagt: “Weisst Du, mein Arzt ist ganz ehrlich. Er meint, Sterben sei nichts Schönes. Ich mache mir da keine Illusionen.”

Und dann, nach einer Pause, die Redensart:

“Aber auch das wird zu überleben sein.”

Stille.

Dann schauen wir uns an, und unser Gelächter wird vom Rauschen der Baumwipfel aufgefangen.

Etwas später stehen wir auf und gehen langsam zurück. Ich höre mich sagen:

“Vielleicht komme ich dann gelegentlich vorbei, und schrubbe die Stele…”.