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Kommunikation und Netz und Interaktion und Konfusion und...

∞  4 Mai 2010, 22:56

Norbert Bolz ist Kommunikationswissenschafter, und als solcher gibt er The European ein Interview zur schönen neuen internetten Kommunikation. Zwischendurch fragte ich mich, wie weit man als wissenschaftlicher Betrachter eines Massenphänomens zwangsläufig zur Überzeugung kommt, dass eine neue Scheinwirklichkeit als Wirklichkeit zu deuten ist? Wahrscheinlich aber pflege ich nur einen Abwehrreflex, der in mir schon nach dem ersten Satz ganz gehörig ausschlug:

Die sozialen Netzwerke ersetzen mittlerweile die Religion.


Wie bitte? Facebook, Twitter oder StudiVZ als Religionsersatz? Das Geschwätz und der Austausch von Farmtierchen in einem virtuellen Spielchen als Religion?

Aber eben, der Herr Bolz ist Wissenschaftler und versteht Religion soziologisch: Das Netzwerk der Vielen, die alle über das gleiche Schwatzen, gibt dem Teilnehmer Rückversicherung, Rückkopplung. Das ist “religio” im lateinischen Wortsinn, wie Görlach in den Kommentaren erklärt. Dennoch regt sich bei mir die Vermutung, wenn denn die Deutung nicht absolut verstiegen ist, dass frühere Generationen an diese Art der Rückkopplung und Rückversicherung handfestere Erwartungen geknüpft haben dürften – und folglich auch ganz anders gefordert gewesen waren, selbst Teil einer solchen Gemeinschaft zu sein… Aber wahrscheinlich ist das genau mein zweiter Holzweg. Denn das Interview will mich auch lehren, dass Kommunikation nicht das ist, was ich darin vermute: Es geht nicht um Wissenstransfer, nicht um Informationserhalt, um Frage und Antwort. Es geht um Geschwätz Vieler über das Gleiche. DAS schafft Geborgenheit. Das Geheimnis heisst Redundanz – also das mehrfache Vorhandensein der gleichen Aussage:
Wenn viele Fan vom Gleichen sind, und ich auch, dann gehöre ich dazu?
Zum ersten Mal lese ich schwarz auf weiss, was scheinbar mit Kommunikation heute wirklich gemeint ist: Lärm. Bewegung. “ich auch-Verhalten”. Mit Dualität hat das nichts zu tun.
Umgekehrt ist das interaktive Element des Internets aber nach Bolz auch der Grund, warum es kein eigentliches Massenmedium ist. Die Möglichkeit der Interaktivität bindet die Aufmerksamkeit des Konsumenten nicht an das Medium. Der Inhalt kann gar nicht in gleicher Weise bestimmt werden wie z.B. vom Fernsehen. Vielleicht ist das ja der Trost? Dass eben wegzappt, wer wirklich reden will? Und fragen?
Nur, wie ist das mit dem Zappen. Es geht durch alle Kanäle. Die Fernbedienung, der schnelle Klick ist vielleicht der Tod der Aufmerksamkeitsbindung und damit so manches Angebotes – aber die Vielfalt macht Breite. Nicht Tiefe.
Und so wird der Mensch eben der Natur entfremdet, versinkt in der digitalen Technik und deren rasanter Entwicklung. Hier treffe ich mich in meiner persönlichen Wahrnehmung mit ihm:

Von allem, was in der Natur so rumwuselt, ist der Mensch das am wenigsten natürliche Wesen

– um dann sogleich wieder allein zu stehen, denn – natürlich – ist für den Kommunikationswissenschaftler das alles folgerichtig, und der Mensch tut, was er tun muss:

und die Angewiesenheit auf Technizität, die Angewiesenheit auf Künstlichkeit wird heute nur deutlicher, als sie früher je war. Heute verbietet es eigentlich unsere Alltagserfahrung, den Menschen als Naturwesen zu begreifen. Wir lernen, dass er in synergetischen Prozessen mit seinen eigenen Technologien steht und dass er sein eigenes Menschsein gewissermaßen selbst aufbaut. Viele erschreckt das, sie ziehen sich zurück und hören, lauschen, was Mutter Natur ihnen zuruft, aber ich denke, das ist eine haltlose Position.


Also: Ich finde, mein Halt war nie grösser, als in jenem Moment, in der ich in der Steppe Botswanas stand und die Elefanten in doppelter Steinwurfdistanz an mir vorbei zogen.
Zugegeben, wir können nun nicht alle unsere Zelte in Botswana aufschlagen, und es mag auch richtig sein, dass wir uns über Technologie definieren bzw. mit ihr versuchen, alles zu optimieren, was wir uns vorstellen, aber nicht tun können. Fliegen, Schwimmen, aber auch denken.
Ob das wirklich wo hin führt, wo wir uns wirklich finden können? Im Netz lernen wir in dieser Art “religio” ganz sicher kein vernetztes Denken. Aber dummerweise entfernen wir uns auch immer mehr von dieser Einsicht. Die Bescheidenheit des Einzelnen geht in diesem Massenlärm unter.
Dass dieser mich so sehr verwirrende Mann am Schluss darauf kommt, dass die Frage nach Gott längst nicht überflüssig geworden ist, verwundert mich nicht mal mehr:

Der Mensch, das müssen Atheisten begreifen, verliert seinen Referenzbogen, seine möglichen Selbststeigerungsgedanken, wenn er Gott aufgibt. Wie gewinnt der Mensch dann sein Selbstverständnis? Wir haben eine Technologie entwickelt, die uns tagtäglich mit jedem Einzelnen, mit unserem Netzwerk, mit der gesamten Weltgemeinschaft verbindet. Das eröffnet uns Optionen, die wir uns nie erdacht hätten. Um das ins Wort zu fassen, brauchen wir weder die Wissenschaft noch die Philosophie. Das kann nur die Theologie.


Ich nehme einen Satz mit ins Bett, der mir wirklich gut gefallen hat:
Er sei wiederholt:
Der Mensch […] verliert seinen Referenzbogen, seine möglichen Selbststeigerungsgedanken, wenn er Gott aufgibt.


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Nochmal der Link zum Interview:
Das Internet ist kein Massenmedium
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