Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Kambodscha - und andere Beispiele unserer Anmassung

∞  3 August 2010, 21:49

Wir kümmern uns um die ganze Welt. Unsere Nachrichten schliessen die Hochs und Tiefs dieser ganzen Erde mit ein. Ausbeutung da, Artenschutz dort. Wir sind alle Ex- und Gegenwartskolonialisten. Gegenwart? Protestieren Sie nicht. Oder sagen Sie mir, warum Sie als Binnenländerbewohner meinen, Sie müssten Meerestiere essen?

Ich weiss, das ist sehr asketisch gedacht,und ganz bestimmt sitzt gleich mit am Tisch einer, der mir erklärt, dass unsere Lust am Meeresgetier ganze Heerscharen von Fischern ernährt. Alles richtig. So lange Brosamen an die Küste fallen – und nicht der Mangel gänzlich einkehrt.

Wir haben den Holocaust, die Grauen im früheren Jugoslawien, über die wir schon nicht mehr so genau Bescheid wissen, und wir machen einzelne Volksgruppen und Geschichten unserer Geschichte zu tragenden Säulen unserer Gegenwartsrechthaberei und meinen, wir wären auch im Leid einzigartig. Ja, das ist irgendwie mies. Denn gleichzeitig vergessen wir Genozide und Greueltaten gegenüber Völkern und Religionen, die in ihrer Dichte und zielgerichteten Perfidität jeden Vergleich mit unserer Geschichte aufnehmen können.

Jetzt gerade schaffen wir es, mal kurz hinzuhören, mehr als dreissig Jahre nach dem Ergeignis: Die roten Khmer haben in Kambodscha innert vier Jahren zwei Millionen Menschen unter die Erde gebracht, und den Rest traumatisiert.

Wir haben die Mongolei bereist. Dieses Land, das wir als Märchenparadies weiter Steppenlandschaften glorifizieren, und das gerade seiner Bodenschätze wegen an die Meistbietenden verschachert wird, hat die Schleifung von 7000 buddhistischen Klöstern unter Stalin hinter sich – und nichts als Ruinen sind geblieben, auch in der Erinnerung: Eine ganze Generation, nein, eher zwei, fehlen, um aus den Klöstern die buddhistischen Lehren wieder mit Leben erfüllt ins Land zu tragen. Wer lebendige Formen dieser Religion kennt, und in der Mongolei das besucht, was übrig geblieben ist, dem legt sich ein grauer Schleier aufs Gemüt.

Und in Kambodscha? Vor 1975 gab es 50’000 Mönche. Fast alle sind umgebracht worden. Die Bildungslücke für den Buddhismus beträgt mindestens 20 Jahre.

Man stelle sich mal vor, wir würden hier, wo wir leben, gezwungen, alles Kulturelle, das uns mit dem Christentum verbindet, aber auch jede Form von Individualität aufzugeben, und alles, was daran erinnert, ob Mensch oder Ding, würde zerstört. Was meinen Sie, wie gründlich das angegangen werden müsste, um uns in zwanzig Jahren vor dem gleichen Problem zu sehen, das Kambodscha heute noch hat?

Aber vielleicht ist unsere Ignoranz sehr viel besser für die Menschen dort, als wenn wir plötzlich unsere Fürsorge entdeckten. Denn wenn wir “es gut meinen”, dann geht die Entwurzelung fort. Wir reden von Menschenrechten, von Demokratie. Und machen uns keinen Gedanken, dass diese Begriffe von uns mit unserer Kulturgeschichte angehäuft sind und in dieser Form gar nicht zu vermitteln sind. Wir können selbstverständlich versuchen, zu helfen. Zu stärken. Mut zu machen. Aber wir sollten, verdammt nochmal, dafür erst einmal an diese Orte reisen, um zu lernen. Wir wissen nichts. Noch nicht einmal, ob unsere Fähigkeit zum Mitgefühl ausreicht, um auch zu sehen, dass es andere Formen der Verarbeitung gibt, als wir sie kennen. Oder andere Wege, um zu diesem Ziel zu kommen.
Wie unerschiedlich, wie bedenkenswert und wie vielschichtig eine solche Annäherung gestaltet werden müsste, zeigt sehr gut das Interview mit dem Kambodschaner Monychenda Heng in der Zeit, Printausgabe Nr. 31 vom 29. Juli, Seite 56.
Zum Abschluss ein paar Zitate, wobei die Einfachheit der Sprache allein schon stumm macht:

Jeder musste das Gleiche anziehen und das Gleiche essen und gleich viel arbeiten. Ausser dem Anführer. Der arbeitete weniger und ass mehr.

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Der Westen spricht gern von Menschenrechten, er buchstabiert sie aus, wir lesen das Ergebnis.

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Die westliche Vorstellung von der Überwindung der Vergangenheit ist immer eine Erzählung über die Vergangenheit. Aber im Leben geht es um mehr. Das Leben geht weiter.

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Die Gegenwart ist wie ein grosser Raum. Darin zu leben ist an sich schon Therapie. Eine mögliche Heilung liegt darin, den Menschen zu helfen, diese Gegenwart zu geniessen.

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Für das Erleben der Gegenwart muss ein Trauma keine Katastrophe sein. Ein Trauma kann auch benutzt werden, um weiterzuleben.

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Ich bin vollkommen damit einverstanden, mit meinen Erinnerungen zu leben.

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Wir in Kambodscha müssen zuallererst überleben, bevor wir Gerechtigkeit brauchen. Verstehen Sie? Sie in Europa leben, wir überleben mit Müh und Not. Sie konsumieren, wir essen.

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Bei uns steht die Liebe an erster Stelle. Dann kommt das Mitleid. Dann der Gleichmut und erst dann Gerechtigkeit.