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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ist die Schweizer Volksseele besonders schwierig?

∞  13 Oktober 2010, 17:52

Stellen Sie sich vor, die Fussballnationalmannschaft Ihres Landes spielt ein Europaqualifikationsspiel, führt nach 70 Minuten 2:1, und der Kapitän und Star der Mannschaft schlägt einen Freistoss direkt in die Arme des gegnerischen Torhüters: Die Folge: Ein schrilles Pfeifkonzert von den Rängen. Das gleiche bei der Auswechslung dieses Spielers ein paar Minuten später.

Verrückt? Sogar der Schiedsrichter soll sich gewundert haben.
Ich war allerdings versucht, oben im Text das Wort “Star” eben in Anführungszeichen zu setzen. Und da liegt wohl der Kern der Antwort verborgen.

Alex Frei wurde in Frankreich Torschützenkönig, hat einigermassen erfolgreich in Dortmund gespielt und ist Rekordtorschütze für die Schweiz. 40 Treffer hat er erzielt. Mittlerweile haben das alle mindestens drei Mal irgendwo gelsen. Alex Frei hat auch dafür gesorgt, dass es die entsprechenden Bilder von ihm gab beim Torjubel gegen Luxemburg, irgendwann, vor etwa anderthalb Jahren, fernab von Kollegen, denen er sich entzog, um ja allein auf dem Bilddokument zu sein… Und genau das dürfte das Problem sein: Ausser Alex Frei selbst interessiert diese Statistik heute kaum mehr jemanden. Denn seither… spielt Alex Frei wieder in der Schweiz, schiesst seine Tore gegen St. Gallen und Bellinzona und wird in Basel geherzt. Wo anders aber wird er schnell zum Feindbild.

Frei hat immer davon gelebt, dass er das Maximum aus seinen Möglichkeiten machte, oft unterschätzt wurde und dann den einfachsten Weg zum Tor fand. Wenn so einer beginnt, sich mit seiner Glorie zu beschäftigen und Führungsansprüche erfüllen will, für die sein Charakter mindestens nach aussen einfach nicht gemacht ist, dann wird es schwierig und plötzlich ist das Tor verbarrikadiert.

Den Hardcore-Fussballfreund dürfte vor allem geärgert haben, dass Alex Frei nach einem verlorenen Ball schon mal stehen blieb und allenfalls lamentierte, wenn es keinen Freistoss für ihn gab. Es war einfach zu spüren: Frei fühlte sich von Mitspielern, vom Schiedsrichter, vom Gegner und schliesslich gar vom Ball falsch behandelt.

Und wenn “der Schweizer” etwas nicht ausstehen kann, dann ein hoch getragenes Kinn bei einem, der auf Stelzen geht. Einigermassen tragisch und ungerecht war es dennoch, dieses Pfeifkonzert gestern abend, und besonders bitter für Frei: Er war zwar nicht gut, auch gestern abend nicht. Aber es war deutlich zu sehen, dass Frei selbst ein paar Rückschlüsse gezogen hatte: Er kämpfte und rackerte in jeder Sekunde und stopfte unzählige Löcher. Er spielte unglücklich, aber er kämpfte grossartig. Deshalb ist es besonders bitter, dass gerade ein sonst glücklicher Tag für die Schweizer Nati für das Publikum genau der richtige Zeitpunkt war, Alex Frei abzustrafen und ihn “zu stutzen”: Die Schweiz hat gestern 4:1 gewonnen. Zwei der Tore fielen, als Frei vom Feld gegangen und mit Derdiyok neuer Schwung und Tempo ins Angriffsspiel gekommen war. Gewissermassen hat Alex Frei gestern abend 1:4 verloren. Und dieser Satz ist wohl nochmals ungerecht: Denn ganz bestimmt hat sich Frei ein so positives Resultat gewünscht, und vielleicht ist es symptomatisch, dass ausgerechnet in diesem Spiel sein wohl bester Kumpel namens Streller zweimal eigensinnig selbst den Abschluss suchte, statt auf Frei quer zu legen.
Aber vielleicht war auch das gut so, denn die innere Logik hätte womöglich bedeutet, dass Frei den Ball am Tor vorbei geschoben hätte. Nicht, weil er es nicht besser kann. Sondern weil der Ball rund ist. Verdammt rund. Und wenn es nicht läuft, dann aber richtig.

Alex Frei braucht nun etwas Zeit. Die Schweizer “Fans” aber auch. Und die Mannschaftsführung wird sich fragen, ob es gut war, den Captain so lange in der Schusslinie zu halten. Nachher ist man immer klüger. Alex Frei wird daraus lernen, und ich traue ihm sogar zu, dass er eine neue positive Einstellung zur Nationalmannschaft findet. Seine Kollegen haben schon damit begonnen, ihm dabei zu helfen und geben sich solidarisch. Es ist dabei nicht schwer, sich vorzustellen, dass man das nächste Mal selbst im Fadenkreuz stehen könnte…

Ob das Publikum auch etwas lernt, weiss ich nicht. Wie gesagt: Wir sind gerne mal widerspenstig verbiestert auf den tieferen Sitzreihen, wenn vorn jemand den Tambour macht und dabei einen eigenen Takt erfinden will. Niemand ist was Besseres. Wahrscheinlich verteidigen unsere Stellvertreter auf dem Gründ da vorn darum ganz generell besser, als dass sie angreifen… Verhindern statt gestalten eben.