Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Falsche Position, fatale Wahrnehmung

∞  27 Oktober 2009, 06:51

Kennen Sie solche Plätze auch? Ein Stück Natur, mit allem ausgestattet, was nötig wäre, um ein Stück Erholung und Erdung anzubieten. Aber irgend etwas stimmt nicht…

Eine Frage der Wahrnehmung und der eigenen Position, des Stand-Punktes, des Platzes, den man erreicht hat, aber nicht einnehmen kann: Da ist kein Halt, keine Erdung, obwohl nichts an der Situation wirklich bedrohlich ist.

Ich kenne dieses Gefühl vor allem an Flüssen – an Punkten, an denen meine Füsse, mein Stand sich unterhalb der Wasserlinie vor mir befindet. Das Wasser steht mir nicht bis zum Hals, ich bleibe völlig trocken, aber es schiesst absurd unruhig, fahrig und aggressiv an mir vorbei, mit gehörig Strömung, die ich nur deshalb so unruhig erlebe, weil mir meine Position mit einem Blick relativ knapp über dem Wasser einredet, wie es wäre (nur wäre), ich müsste nun tatsächlich gegen “die Flut” ankämpfen. Sässe ich AUF dem Wasser in einem Boot, hätte ich kein Problem. Aber ich stehe da, und ich bin gefangen vom Eindruck dieser flachen, gekräuselten, dann wieder glitzernd glatten Wasserwand, die flach an mir vorbei zieht, mit einem drohen Seitenblick zu mir.

Ich kenne solche Stellen von Spaziergängen in Zürich, gerade unter Brücken mit scheinbar so kräftigen Betonpfeilern, und besonders gut kann ich mich an ein Mittagessen bei einem Geschäftstermin in Basel erinnern, als mir der Ehrenplatz am Fenster zugewiesen wurde – mit Blick auf den Rhein, der vor dem Fenster praktisch an meiner Hüfte vorbei schoss. Der Rhein schoss die ganze Zeit weiter dahin, herunter, immer wieder, ohne Unterbruch natürlich, da konnte ich mir sicher sein. Und immer wieder schaute ich zwanghaft aufs Wasser, nein, versuchte übers Wasser hinaus zu schauen, aber es war, als läge eine schwere Glasdecke auf meinem Blick, und mir wurde schnell schlecht. Es war eine Qual. Fragen Sie mich nicht mehr, was ich gegessen habe. Ich weiss es, natürlich, nicht mehr.

Als ich dann endlich aufstehen konnte, zog es mich hinaus, und ich fand einen Ort, ein wenig die Strasse hoch, wo man als Fussgänger auf den Fluss hinunter sah und sich mir also ein freier Blick auf den Rhein bot, so dass ich ihn von da aus sehenden Auges ruhig aus der Stadt ziehen liess, mit seiner Strömung ein wunderbares Kraftgeschenk für die Lastschiffe, die auf ihm dahin glitten.

Schön, so ein Fluss, wenn er sich so erhaben vor einem ausbreitet. Schön die Natur, tief friedlich das eigene Erleben, wenn wir unseren Platz darin haben. Es ist wirklich eine Frage der eigenen Position. Stimmt sie, so können wir Schönheiten erkennen, Schwierigkeiten begegnen, Gefahren abschätzen und uns zu den Dingen stellen, statt gegen sie. Denn probieren wir letzteres, und sei es nur in der zwanghaften Wahrnehmung einer drohenden Kraft, die sich gegen uns wenden kann, so ist es sehr schwer, sich darin nicht zu verlieren. Am Schreibtisch, vor dem Computer, oder im Speisesaal am Rhein: Es gibt Situationen, denen muss man sich nicht aussetzen, selbst dann nicht, wenn die eigene Wahrnehmung eben wirklich die eigene ist, und nur von wenigen geteilt wird.