Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ein Stadtwanderer wie ich

∞  30 Juni 2007, 15:42

In der Serie: “Vom Wort zum Bild”


Stadtwanderungen – ich laufe unheimlich gerne durch Städte. Mustere die Menschen und versuche, ihre Geschichten zu fühlen. Denke sie mir dazu. Wo gehen sie hin, wo kommen sie her?

Bist Du, Mensch auf meinem Weg, ein Musikhörer oder Bücherleser, glücklich oder traurig, erwartungsvoll oder ängstlich?

Ich beobachte, will aber nicht mustern. Die Menschen wollen für sich sein, ich ja auch, auch wenn es nicht immer bedeutet, dass ich damit leichter auch tatsächlich bei mir statt nur für mich bin. Allein verloren… für wen mag das nicht zeitweise gelten, auf der Strasse, vor mir und hinter mir?

Ich schreibe diesen Eintrag vor allem deshalb, weil ich von diesem einen Menschen erzählen will. Ich kenne ihn auch jetzt nicht, seinen Namen nicht, seine Geschichte nicht. Er ist mir begegnet und doch wieder nicht, unsere Wege haben sich gekreuzt, aber nicht verbunden, und doch werde ich Dich, Junge, nicht so schnell vergessen. Vielleicht sogar wirst Du mir in meinem Leben immer mal wieder in den Sinn kommen, eine Erinnerung sein, die Gedanken auslöst, ein Mahnen auch an mich, und ein Hoffen, dass es Dir gut geht. Aber sicher kann ich das nicht sagen, und deshalb will ich hier von Dir schreiben.

Es ist auf dem Weg in den Zoo, im Tram. Schon als ich einsteigen will, wird der breite Einlass von zwei Kinderwagen versperrt. Ich weiche aus. Das ist nicht schwer für mich. Ich bin gut zu Fuss.

Zwei Stationen später hast Du das gleiche Problem. Doch Du sitzt in einem Rollstuhl. Ich helfe Deinem Vater – oder ist es „nur” Dein Betreuer? – Dich samt Stuhl über den Handlauf im schmalen Eingang hoch zu hieven. Leise fragt mich eine innere Stimme, wieviel Vertrauen das brauchen mag, sich immer wieder von Menschen bugsieren zu lassen, die so wenig Erfahrung mit solchen Situationen haben. Du sitzt ganz gelassen in Deinem Stuhl, der sich erstaunlich leicht anfühlt und lächerlicher Weise deutlich weniger Platz beansprucht als jeder einzelne der besagten Kinderwagen. Von Dir geht eine Ruhe aus in Deinen jungen Jahren, die ich mit 45 noch immer suche.

Beim Aussteigen helfe ich gerne wieder, und es geht den gleichen Weg auf die Strasse runter. Doch ich achte nur darauf, die Räder genug hoch über den Handlauf zu heben, und prompt schlägst Du den Kopf an der oberen Türkante an. Ich mache mich auf Dein Geheul gefasst und habe selbst Kopfschmerzen. Du kannst zwar nicht reden, aber heulen könntest Du bestimmt. Stattdessen lachst Du mich fröhlich an, und die Laute aus Deinem Mund deute ich als ein „Danke”. Vor allem aber lese ich es in Deinen Augen und nehme noch ein Stück Fröhlichkeit daraus in meinen Tag mit.

Auch ich danke Dir.




Caro Nadler zu ihrer Bildwahl:
Das Bild zeigt eine Buckingham-Sektretärin auf dem Weg zur Arbeit durch den Greenpark in London. Sie hat die Nüssli schon dabei und füttert damit die Eichhörnli, die sie schon kennen. Ich stelle mir ihr gepflegtes Zuhause vor mit stillgelegtem Kamin, Tee-Porzellan, Spitzendeckchen auf dem Beistelltisch und Schoner auf der Polstergruppe, vielleicht ein aristokratischer Kater und alles schön geregelt und geordnet. Mit gebügelten Geschirrhandtüchern.

Als sie gefüttert und ich geknipst hatte trafen sich unsere Blicke und wir haben uns angelächelt.

Nur für einen kleinen Augenblick hatte ich einen Einblick ein ganzes Leben.

Danach ging sie zu ihrer Arbeit, an den penibel ordentlichen Schreibtisch, um vielleicht die Reihenfolge der Touristengruppen festzulegen oder die Details des Zeremoniells an eine Besuchergruppe weiterzuleiten.


abgelegt in Achtsamkeit und Vom Wort zum Bild