Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ein Frontbericht aus der Südkurve: FCZ-Maribor 2:3

∞  29 Juli 2009, 23:38

Eigentlich wollte ich davon nicht bloggen. Ich wollte es einfach geniessen und dann zufrieden schlafen gehen. Da ich aber, beim Stadion angekommen, mich spontan für die Hardcore-Variante entschieden und ein Ticket für die Südkurve, den FCZ-Fanblock, gekauft habe, ist das mit dem Schlafen gehen ein bisschen schwierig geworden, und darum müssen Sie als Leser jetzt als Puffer herhalten. Ich muss mich frei schreiben. Dafür hätte eigentlich das Spiel schon gereicht. Aber eben…
Ach so, das Spiel. Nehmen wir das vorneweg, wenigstens in groben Zügen, und so lange ich es noch hinkriege. Also. Wenn das (Schweizer) Spitzenfussball at it’s best ist, dann haben die da unten auf dem schönen grünen Rasen definitiv nichts in der Champions League verloren. Ich habe noch nie einen Match auf höchstem Landesniveau gesehen, in dem so viele haarsträubende Stockfehler begangen wurden. Es war peinlich. Allerdings hat es das Spiel abwechslungsreich gemacht. Es war ständig was los. Den Fussballenthusiasten mag dabei allenfalls gestört haben, dass dies eher unfreiwillig geschah.
Im Speziellen habe ich noch nie einen so hypernervösen Torhüter gesehen. Die erste Aktion war unsicher, und aus dieser Verunsicherung fand er nicht mehr heraus. Das ganze Spiel nicht. Nach gut zwanzig Minuten waren drei Tore gefallen. Es hätten auch fünf sein können. Dabei hat Maribor wahrscheinlich Schuld. Die haben nämlich damit angefangen und den Zürchern gleich zu Beginn den Ball gleich mehr oder weniger selbst hingelegt. Und die haben im dritten Anlauf das Geschenk angenommen. Ausgerechnet Vonlanthen. Der hat uns das letzte Mal aus der Qualfikation geschossen, im Dress von Salzburg. Österreicher. Jawoll. Wir sind gegen Österreicher ausgeschieden. Der Torschütze geht in der Kurve aber völlig unter. Ich sehe Minuten lang nichts. Als die Fahnen alle wieder unten sind, hätten wir alle wirklich lieber nichts gesehen. Der Ball segelt durch unseren Strafraum, und der baumlange Modellathlet Guatelli läuft aus dem Tor und fängt den Ball – nicht. Stattdessen pflückt er ihn vom Himmel und legt ihn quasi auf den Schlappen des gegnerischen Stürmers. 1:1. Ich sage zum Nachbarn, man kommt sich da schnell näher: Wenn der FCZ diesen Match gewinnen will, müssen die fünf Tore schiessen…
Guatelli weiss kurz danach mit einer Rückgabe nix anzufangen und seine Verteidigerkollegen grätschen für ihren Torhüter ein bisschen am Strafraum nach links und rechts, damit der gegenerische Stürmer so einen Schrecken über die unverhoffte Chance spürt, dass er verschiesst. Ein paar Minuten später ist es doch passiert. Abgefälschter Schuss, Tor. Guatelli ist die Verzweiflung in der Gestik und Haltung anzusehen. Owohl er bei dem Tor wohl nicht so viel dafür kann: Man spürt einfach seine bodenlose Verunsicherung. Es steht 1:2 und in der Südkurve tun sie, was sie seit der ersten Minute tun. Singen. Ununterbrochen. Sie haben das Stadion praktisch für sich alleine. Ganz gegenüber, absurd in einen schmalen Sektor gepfercht, sind die Feinde von Maribor im Delirium. Sie scheinen auch zu singen. Aber das hören wir nicht. Der Einsatz der Fans ist total. Über fest installierte Megaphons werden die Schlachtrufe orchestriert, angesagt, und dann punktgenau aus tausenden Kehlen aufs Feld gebrüllt, begleitet von rhythmischem Klatschen, als klackten hunderte Kastagnetten.
Hassli schiesst das 2:2. Alles wird gut. Der Gegner ist keinen Deut besser.
Mein Sitznachbar, Verzeihung, Stehnachbar – seit der ersten Minute sitzt kein Mensch, man würde gar nix sehen, schaut mich hoffend an. Seine dunklen Augen sind wissend, aber er will es nicht wahr haben. Hinter mir brüllt einer in mein Ohr: “Scheiss-Mariborer Hurensöhne.” Ich dreh mich nach dem Menschenfreund um. Seine leicht glasigen Augen verraten den Gewohnheitstrinker. Er hat einen hochroten Kopf. Er ist in der Weise betrunken, wie es Alkoholiker sind, die stets einen Pegel haben, auf dem sich die nächste Aufregung aufbauen lässt, um dem Scheiss-Alltag zu entfliehen, an dem alle Schuld sind, nur der Trinker nicht. Dieser hier ist vielleicht sechzehn Jahre alt.
Eine Leistung hat er allerdings drauf: Ich habe noch nie ein Männlein so brüllen hören. Einen Mann auch nicht. Ein unglaubliches Organ. Wahrscheinlich steckt da so viel Luft in dem roten Kopf, dass die einfach explosionsartig entweicht. Leider bekomme ich davon keinen Hörschaden, auf jeden Fall nicht unmittelbar, und so muss ich Ihnen leider sagen, dass die Essenz seiner Reden in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu seiner Lautstärke stand – und das sollte sich noch weiter potenzieren in der zweiten Halbzeit.
Ich fachsimple ein wenig mit meinem stillen Nachbarn mit den traurigen Augen und versuche, ihn aufzumuntern. Technisch sind die unseren ja wirklich ganz gut, ausser vor dem eigenen Tor und beim Torschuss auf der anderen Seite. Und so schlecht können die Unseren doch gar nicht weiter spielen. Wir sind uns einig, dass gegen diese Holzbeinträger eine einmalige Chance vergeben wird, wenn der FCZ dieses Spiel nicht gewinnt.
Zweite Halbzeit. Nach fünf Minuten Eckball für Maribor. Tor. Direkt verwandelt. Guatelli machen wir nur als wild rudernden Schatten aus. 2:3. Die Fans? Singen weiter. Wild entschlossen. Die leisten tausendprozentigen Einsatz. Kein böses Wort gegen den Torhüter höre ich. Erstaunlich. Sehr erstaunlich. “Motherfucker und Hurensöhne” sind die anderen. Sie können raten, wer das weiss. Und nach Ansicht von wem. Die gegnerischen Spieler, die liegen bleiben, der Schiedsrichter, der permanent falsch pfeifft, wenn nicht für die Weissen. Aber auch hier erstaunlich. Der Geselle hinter mit ist einer der ganz wenigen deftig Bekloppten in meiner Nähe. Die meisten anderen singen weiter. Eine sehr sympathische Art, seine Verzweiflung zu verarbeiten. Der kleine Schönheitsfehler ist allenfalls, dass die Gesänge dann am lautesten sind, wenn der Gegner verhöhnt wird, und nicht unbedingt bei der Anfeuerung der eigenen Mannschaft. Aber unter dem Strich wird die eigene Mannschaft schlicht zum Kämpfen aufgefordert. Die Fans wollen sehen, dass die Spieler wie sie auch alles geben. Sie werden alle wieder kommen. Ausser ihnen ist eh fast niemand da. 8500 Zuschauer für ein Champions-League-Quali-Spiel. Das ist nur einfach erbärmlich und beweist einmal mehr: Zürich ist keine Sportstadt. Ausser für den harten Kern. Gut siebzig Minuten sind gespielt. Penalty für Maribor. Ich sehe, wie ein Spieler der violetten triumphierende Gesten zu den eigenen Fans hinter dem Tor macht und sie auffordert, vorausschauend mit der Welle schon mal das 4:2 zu feiern. Jetzt könnte sich Guatelli vielleicht ein wenig rehabilitieren. Wenn er den hält… Aber dazu kriegt er keine Gelegenheit. Der Schütze schiesst daneben. Und zwar, wie es aus meiner Position aussieht, gleich um Meter. Wirklich unglaublich. Ich bin froh. Für Guatelli, und für die unsympathische Aktion des Mariborers. Nein, ich schreie nicht “Scheiss-Maribor” deswegen, aber recht geschah ihm trotzdem.
Jetzt wird doch noch was gehen! Die Elf verstolpert den Ball vor der Torlinie, Tihinen köpft daneben, Vonlanthen verzieht knapp. Alle sind sie tolle Dribbler, die Zürcher Angreifer, und sie kreieren auch Chancen. Aber mehr nicht. Heute nicht.
Der Geselle hinter mir ist mittlerweile dunkelrot. Nun schreit er unablässig. So viele Hurensöhne sieht die Welt gar nicht, wie sie ihn verfolgen. Der Mann hat wirklich eine schwierige Mission. Man stelle sich vor, Zürich würde mehr verlieren…
Zwei wunderbare Episoden lockern die Verkrampfung auf. Nach fünfundsiebzig Minuten ist es zum ersten Mal für Momente still. Da hört man über das Megaphon den Einpeitscher rufen:
“Hey Jungs, mich scheisst’s ja auch an. Aber wir geben nicht auf. Und geben alles.” Und schon heben die Rufe aus fast allen Kehlen fast die Sitze aus den Angeln. Als sich die Menge für den nächsten Chor sammelt, rufen drei Nasen von rechts herüber: “Hier ist die Ostkurve!”
Sofort wird der Ruf aufgenommen, die Hände zeigen nach rechts. “Ostkurve”. Der Ruf wird zurückgegeben. “Südkurve.” Nun aus hundert Kehlen. Die Finger in unserem Block gehen nach links: “Westkurve.” Und tatsächlich, von der Teppichetage tönt es zurück: “Südkurve.” So geht das ein paar Minuten hin und her. Phantastisch.
Am Schluss bin ich geschafft. Restlos. Und, obwohl ich nicht gesungen habe (ich kenne meine Grenzen und bin sogar in der Fankurve ein Menschenfreund), bin ich trotzdem leicht heiser. Ich musste ziemlich schreien, um mich mit meinem Nachbarn unterhalten zu können. “Im Rückspiel”, sagt er, “werden sie es packen”. Die sind genau so schlecht, unsere können es besser. Da kann man auswärts auch 2:0 gewinnen. Wo er recht hat, hat er recht. Allerdings verkneife ich mir, ihm in einer Hinsicht zu widersprechen: Gewinnen schon. Aber zu null?
Die Spieler zeigen Charakter. Genau so, wie sie unermüdlich auf dem Spielfeld geackert haben, genau so aufrecht kommen sie am Ende zur Fankurve. Und sie erhalten Applaus. Auch der Torhüter ist da. Guatelli breitet die Arme aus und zeigt dann mit den Fingern auf seine Brust. Dann legt er die Handflächen nach aussen und zieht die Schultern hoch. “Ich war’s. Ich allein habe es verbockt. Tut mir sehr Leid.”
An diesem Abend übersetze ich erstmals den Applaus einer Masse Menschen als Kundgebung einer Gruppe, die Trost spenden will. Einem, der einen kleinen Traum zerstört hat durch eigene Fehler. Fussball ist ein Mannschaftssport. Und es gibt Fans, die das durch alle Böden hindurch verinnerlichen. Sie werden immer wieder kommen. Nächstes Mal geht’s besser. “You never walk alone” singen sie in Liverpool. Auch der FCZ hat ein paar Tausend, die genau so denken und handeln.
Die Spieler trotten zurück in die Kabine. Guatelli wird von verschiedener Seite getröstet. Ich beobachte keine einzige ärgerliche Geste unter den Spielern. Keine Vorwürfe. In der Enttäuschung vereint. Man gewinnt und verliert zusammen. Vielleicht wird dieser Ärger noch kommen. Aber in dem Moment, auf diesem Rasen, in dieser Situation, bist Du einfach irgendwie froh, dass Du nicht alleine durch diese Enttäuschung musst. Und echte Teamplayer wissen: Nächstes Mal brauche ich vielleicht die Nachsicht meiner Kollegen. Keiner greift oder schiesst absichtlich daneben.
Und will danach alleine gelassen werden. Nicht wirklich. Ich aber gehe alleine nach Hause.
Auch ich gehe mal wieder hin. Wahrscheinlich nicht mehr so direkt in den Fanblock. Irgendwie bin ich dafür zu alt. Aber wenn das Spiel wieder so viele Aufreger bietet, ist das okay. Unterhaltung eben, wenn auch nicht unbedingt Kunst. Ein Spiel eben. Und das ist ja doch auch gut so, wenn man dies nicht vergisst. Auch in der Südkurve.