Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Die Doper und wir

∞  29 Juli 2013, 18:51

Frankreichs Labore haben Dopingproben von 1998 analysiert – mit dem Ergebnis, dass knapp 60 Fahrer der Tour de France 1998 mit EPO gedopt waren. Erik Zabel hat zugegeben, viel mehr gedopt zu haben, als schon mal von ihm “gestanden”. Lance Armstrong meldet sich von ennet dem Teich und fordert dazu auf, einen Schlussstrich zu ziehen. Es hätten alle gelogen und betrogen.

Und es ist genau diese besondere “Logik” welche den richtig dunklen Schlagschatten auf unsere Gesellschaft wirft. Damals wie heute. Es bescheissen alle, mit entsprechenden gesundheitlichen Risiken, aber wissen darf es niemand: Die Show soll weiter gehen, der Rubel soll rollen. Das Dopen ist zwar in seinen Auswüchsen schauerlich, so richtig unerträglich ist das Verhalten der Protagonisten. Was wir damals schon ahnten, als Zuhörer ohne Blick hinter die Kulissen, ist heute Gewissheit: Es war (und ist wohl) alles noch viel schlimmer als je angenommen. Und was Saubere, Verdächtige, Überführte und gar Geständige verlauten lassen, ist wohl auch nicht die Wahrheit. Die wird gebogen und geschönt und zurechtgerückt, dass es einem übel wird vor dem Podium. Aber: Was ist denn mit uns Konsumenten, mit uns Sport-Enthusisasten? Was denken wir, wenn wir hören, dass fast 60 Fahrer gedopt waren (ob noch viel mehr Fahrer überhaupt kontrolliert und untersucht wurden, weiss ich nicht). Eine Ecke denkt sich: Ja, wenn das so ist, und flächendeckend beschissen wird, dann ist es mit der Chancengleichheit ja gar nicht so wenig weit her gewesen wie angenommen? Wir neigen dazu, die Selbstverantwortung der Sportler zu bemühen und es ihrer Vernunft zu überlassen. Vielleicht sogar noch dann, wenn jemand aus der eigenen Entourage die Möglichkeit besitzt, im Zirkus eine Rolle zu spielen – und die Ernüchterung folgt erst, wenn jene nachzuhelfen beginnen, die sonst gar keine Chance haben würden, jene, die besser einfach joggen würden, statt rennen, radeln statt sprinten…

Die Gesellschaft offenbart die gleiche Ambivalenz fehlender Konsequenzen und Sanktkionen, wie wir sie längst auch in der Wirtschaft haben. Niemand wird hellhörig, wenn Ärzte, Manager von ihren 70-Stunden-Wochen berichten – und diese auch noch belegen können. Wer glaubt, dies wäre ohne Aufrüttler und Fitmacher möglich, ist ähnlich naiv wie der Sportkonsument. Aber hier wie dort entblöden sich die Stars nicht, zu betonen, dass ihnen nichts so wichtig sei wie die Familie, gutes Zeitmanagement, aktive Erholung und ähnliches mehr.

Wir ächten sie nicht, die Lügner in ihren Rollenspielen, die sie bis zur Selbstverleugnung auskleiden mit Strahlemännerbiographien, die alles mögliche sein können – aber nicht wirklich gesund und nicht zu (über)leben. Und so richtig unerträglich ist darum nicht der Radsport, nicht der Spitzensport, nicht das Doping an sich. Wirklich schwer zu ertragen sind Typen wie Armstrong, die nicht nur ihr eigenes Tun kaschiert haben, sondern noch forsch und fordernd den Saubermann abgeben wollten, sind Typen wie Ullrich und Zabel, die nur scheibchenweise, dafür unter Tränen offenbarten, was sie getrieben haben. Und unerträglich sind wir alle, die geständigen Dopingsündern, die bereit sind auszusagen, genau so wenig Glauben schenken woll(t)en, wie wir im Grunde Lust darauf haben, dass die ganze Sch…, um im Duktus von Armstrong zu reden, wirklich offen da liegt und wir uns alle fragen müssen, wie wir je glauben konnten, dass solche Leistungen menschlich wären?

Wahrscheinlich, dass das gesundheitliche Schindluder, das die Sportler treiben, sie für immer körperlich zeichnet, und ganz sicher, dass sie so viele menschliche Tugenden dafür mit Füssen getreten haben, dass der Rest ihres Menschenlebens nicht ausreicht, um innerlich nochmals richtig froh zu werden.

Aber wie steht es denn mit den Mühlen, in denen wir selbst stecken? Wie weit sind wir bereit zu gehen, im Wettbewerb mit Arbeitskollegen für noch mehr Überzeit oder im Wettstreit mit Sportkollegen für die nächste Marathonbestzeit? Der eigene Medizinschrank wird nicht fremdkontrolliert. Nur die Vernunft kann helfen, das Wertesystem, das Risiko und möglichen Ertrag auf dessen inneren Charakter untersucht.

Das nimmt uns niemand ab. Und ist doch womöglich der einzige Ansatzpunkt, an dem sich tausendfach andere Entscheidungen treffen lassen, als bisher. Und vielleicht ist es gerade dafür gut und nützlich, dass man die Damen und Herren Alchemisten in Sporthosen ihr Schmierenstück aufführen lässt. Auf dass anderen ein Licht aufgehe, die für sich selbst daraus Konsequenzen ziehen können und wollen.