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Beschneidungsurteil: Wut trifft auf Scham.

∞  22 Juli 2012, 15:46

Das Kölner Landgericht hat mit seinem Entscheid zur Beschneidung von Jungen tatsächlich eine Grundsatzdebatte losgetreten, die viele für überflüssig halten, andere als dringend notwendig. Die meisten Politiker scheinen sich auf jeden Fall zu wünschen, sie könnten das Rad zurück drehen und die Sache wie einen bösen Traum wegwischen, so sehr scheinen sie die Kalamitäten der gesellschaftlichen Debatte zu fürchten. Entsprechend fallen denn auch die Reaktionen der islamischen und jüdischen Organisationen aus – und deren Wortwahl lässt tatsächlich aufhorchen.

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Das Gericht sah sich veranlasst, das Recht auf freie Religionsausübung und das so genannte Elternrecht mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Individuums abzuwägen – und es hat, durchaus folgerichtig in der Entwicklung unserer gesellschaftlichen Wertevorstellungen, zu Gunsten des Rechtes des Kindes auf die eigene Entscheidung befunden. Die streng gläubigen Juden und Muslime finden sich nun vereint in ihrer Bestürzung und sehen im richterlichen Entscheid einen Affront, der es ihnen unmöglich macht, nach den Riten ihrer Religion zu leben. Einem Entscheid eines Gerichts eines Staates, der gerade durch die Anwendung der gleichen menschenrechtlichen Prinzipien auf und für alle die Grundlagen dafür sieht, dass innerhalb dieses Wertekatalogs alle Ethnien aller Religionen gleich behandelt werden – mit dem grösstmöglichen Schutz für den Einzelnen, egal, in welche Volksgruppe hinein er geboren wird. Das ist das Ziel und der Weg, den gerade auch wir Christen in unserem Heimatstaat annehmen und lernen mussten, wenn es darum ging, christlich motivierte Elemente der Erziehung im Unterricht zurück zu fahren.

Faktisch weitgehend als Gesellschaft säkularisiert, man mag das auch beklagen oder ebenausdrücklich begrüssen, bleibt mit den Fähigkeiten zur Toleranz in einer aufgeklärten Gesellschaft nur der Weg, die grösstmögliche Freiheit des Einzelnen zu gewährleisten, und umgekehrt die kulturelle Identität der Gemeinschaften nicht unnötig zu behindern. Aber in dieser Reihenfolge – und nicht umgekehrt, was zur Folge hat, dass die bewusste Entscheidung zu einem Eingriff am eigenen Körper nur durch die Person selbst getroffen werden kann.

Die Reaktionen von Vertretungen der Religionsgemeinschaften auf den Gerichtsentscheid und die Konsequenz, welche daraus zum Beispiel das Kinderspital Zürich zog, sind mehr Bestätigung für diesen Grundsatz denn ein Gegenargument.

Ein Schweizer Repräsentant eines muslimischen Verbandes bezeichnete die Frage der Beschneidung als “nicht verhandelbar”, als würde man sich (bereits) im Kriegszustand befinden, und ein Vertreter der jüdischen Cultusgemeinde in Zürich setzte das Verbot der Beschneidung auf die gleiche Stufe, wie wenn man den Christen fünf ihrer zehn Gebote verbieten würde (beide Aussagen stammen aus der Printausgabe des Tages-Anzeigers dieser Tage, leider ohne genauere Quellenangabe). Pinchas Goldschmidt, Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, bezeichnete das Urteil als schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust.

Die Heftikgeit dieser Reaktionen lässt die Politiker aufschrecken. Die Bundeskanzlerin fürchtet, dass ausgerechnet Deutschland, wenn es als einziges Land den Juden die Beschneidung verbietet, in altem Licht gesehen wird, das Ansehen in der Welt Schaden nehmen könnte.

Mir ist diese Reaktion suspekt. Welches Ansehen wollen wir denn verteidigen? Welcher Religion erlauben wir welche Prioritäten im Umgang mit Grundrechten? Den religiösen Verbänden mag ich zugute halten, dass sie sich ob der plötzlichen Fragestellung überrumpelt fühlen, doch ich bin überzeugt, dass es angesichts der unterschiedlichen religiös motivierten Einschränkungen der persönlichen Integrität und Entscheidungsfreiheit nur diese eine Maxime gibt, welche das Kölner Landgericht in diesem Fall auch sucht. Dass damit die Debatte erst angestossen wird und diese körperliche Integrität auch in andern Fällen zukünftig anders zu gewichten sein wird, ist auch klar. Die Richtung, in welche wir uns aber bewegen, ja bewegen müssen, ist ganz deutlich – und folgerichtig. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mag nun in Köln angestossen worden sein – sie wird nicht auf Deutschland beschränkt bleiben.

Es gibt ganz praktische, eben praktikable Wege, Religion ausüben zu können, und dabei die allgemeinen Grundrechte des Einzelnen zu respektieren. Dass diese Grundrechte auch für in die religiöse Gemeinschaft hinein Geborene zu gelten haben, ist auf allen Seiten zu respektieren. Dass das dazu führt, dass gewisse rituelle Handlungen bewusst gewollt werden müssen und erst dann vollzogen werden können, bedeutet Wandel, nicht aber Aufgabe der möglichen seelischen Gesundung durch die Zugehörigkeit zu einer Religion.

Als Schweizer Bürger, der es sich gewohnt ist, dass er über möglichst viele Bereiche seines Lebens bewusst entscheiden kann – und der mit allen entsprechenden Konsequenzen auch seine kulturell-religiöse Identität bejaht – oder eben suchen muss – wünsche ich mir, dass dies für alle meine Mitbürger genau so gilt, und dass, wer auch immer Autorität über Menschen ausübt, dabei das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen nicht übergeht.