Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ausrasten im Raster

∞  4 Mai 2012, 13:36

Der Sion-Spieler Serey Die schlägt einem Balljungen ins Gesicht. Dafür geht er nach dem Spiel extra zu dem Jungen hin. Von Affekt kann also keine Rede sein. Der Trainer von Florenz verprügelt einen Spieler, der mit seiner Auswechslung nicht einverststanden war – dass Monsieur Constantin zur gleichen Zeit den 30. Trainer sucht, ist da schon fast Normalität.

istockphoto.com/koun

Sport muss einen nicht interessieren; ich wünschte sogar, die Personen, die das eh finden, würden bei solchen Ereignissen wegsehen und -hören, statt sich bestätigt zu fühlen. Tatsächlich sind diese Vorfälle eine unglaubliche Versinnbildlichung unserer allgemeinen gesellschaftlichen Veränderung, bei der immer mehr Leistungsdruck in Kauf genommen werden muss, der Zahlende immer Recht erhält, Autorität eingefordert statt per Vorbild vorgelebt wird.

Es gibt immer weniger Zwischentöne, Feinheiten und Sensibilitäten. Dem Resultat kann praktisch alles untergeordnet werden. Zu diesem Resultat mag gehören, dass es uns, gemessen an den statistischen Werten, so gut geht wie nie zuvor. Das muss zur Rechtfertigung und Erklärung reichen, was für viele Menschen aber nicht ausreicht:

Es ist geradezu absurd, wie viele Menschen pessimistisch in die Zukunft schauen. Natürlich gehört dazu der psychologische Effekt, dass nur der befürchten muss, etwas zu verlieren, der auch etwas besitzt. Aber wir zahlen hier die Quittung der allgemeinen Botschaft in Politik und Gesellschaft, dass jeder seines Glückes eigener Schmid sei und die Eigenverantwortung postuliert: Die Menschen sind sich bewusst, dass das, was ihnen gehört, was sie an Reserven erarbeitet haben, von ihnen abhängt: Und die Ahnung, im Falle einer abnehmenden Leistungsfähigkeit hierfür nicht mehr sorgen zu können – und dann durch das Netz der Anerkennung dieser Leistungsgesellschaft zu fallen, sich auf Rentenversprechen besser nicht zu verlassen und zu schauen, wo man bleibt, das alles ist Teil dieser neuen Kälte, die kein Konsumtempel, den man mit oder ohne Geld betritt, weg glitzern und funkeln kann.

Dass Spieler und Trainer, die für Ihre Kunst im Umgang mit dem Ballkicken so fürstlich entlöhnt werden, so ausrasten, ist dazu keine Antithese: Es beweist oder zeigt nur, dass Druck nicht von der Gehaltsklasse abhängt, dass Geld keine Heimat schafft und keine Wurzeln bildet. Und es beweist allenfalls, dass Contenance und Gelassenheit mit innerem Reichtum zu tun hätten, definitiv aber nicht zugekauft werden können. Und wer die Anerkennung im und durch das System will, die nächste Sprossenleiter, der darf sich diese Fragen alle nicht stellen. Der fragt nicht nach dem Sinn der Regeln, der fragt nach der Regel selbst und lotet allenfalls deren Grenzen aus.