Ein wirklicher Anschlag auf die Religionsfreiheit
In Lahore Pakistan haben Taliban bzw. fundamentalistische Moslems Ahmadiyya-Moscheen überfallen und viele Menschen erschossen. Dieser Akt der Barbarei legt auch für die hiesige Diskussion über muslimische Mitbürger und die Akzeptanz für andere unter uns und unter den Muslimen ein grundsätzliches Problem offen:
Aus muslimischen Kreisen habe ich im Zuge der Diskussion um die Minarett-Initiative und der Islam-Debatte nicht viele Reaktionen bekommen – ausser von muslimischen Gruppen, die sich nichts sehnlicher wünschen als eine Akzeptanz der Vielseitigkeit als Ausdruck echter Toleranz. Gerade diese Gruppen haben das im Raum stehende Verbot des Baus von Minaretten nie mit einer faktischen Behinderung der Religionsfreiheit gleichgesetzt. Das dürfte damit zu tun haben, dass diese Glaubensgemeinschaften innerhalb der muslimischen Welt ganz andere Formen der Einschränkung ihrer Regligionsfreiheit kennen und das, was sie bei uns antreffen und erleben dürfen, geradezu belebend, tolerant und brüderlich gemeinschaftlich empfunden wird. Entsprechend offen geben sich Gemeinschaften wie die Ahmadiyya-Bewegung des Islam in Zürich – wo ihre Moschee seit den 60er-Jahren zum Stadtbild im Balgrist-Quartier gehört und das Zusammenleben der Religionen wunderbar gelebt wird.
Was in Pakistan geschieht, ist sehr traurig – und grausam dreckig, denn es geht um Politik. Religiös motivierte Politik ist dabei stets fanatisch grausam und unmenschlich – und macht jede theoretisch intellektuelle Diskussion über Menschenrechte jeder Art lächerlich. Den Hintermännern des Attentats in Pakistan droht keine grosse Gefahr, denn stillschweigend wird die Zerschlagung moderater muslimischer Glaubensgemeinschaften geduldet bis begrüsst: Eine Sekte, wie die NZZ die Ahmadiyya-Bewegung nennt (???), die sich “Liebe für alle, Hass für keinen” auf die Fahne geschrieben hat, scheint für “die muslimische Sache” tendenziell subversiv und damit gefährlich zu sein.
Vermummungsverbot für alle
Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf ist gegen ein Burkaverbot. Es gibt kaum Frauen in der Schweiz, welche eine Burka tragen. Dass der Islamwissenschaftler der Uni Bern meint, er hätte noch gar nie eine Frau in einer Burka gesehen, während ich “schon” zwei Mal eine solche gesehen habe, beweist nun sicher nicht, dass ich im Gegensatz zu dem Herrn Professor der Islam-Spezialist bin, aber es ist vielleicht ein Beleg dafür, dass Bern das grössere Kaff als Zürich oder Genf ist.
Mag nun also die Schweizer Regierung in einem Kaff regieren – was übrigens nicht wirklich meine Meinung ist, ich mag Bern und welche andere Stadt der Welt machte es möglich, dass der Verteidigungsminister mit dem Bike zur Arbeit radelt und sein Rad ganz normal im Radständer parkiert, samt Zahlenschloss – nein, das “Kaff” ist kein Hieb sondern eigentlich eine Sympathiekundgabe, denn in der Beschaulichkeit und Rechtsstaatlichkeit, die wir hier pflegen, ist das, was Frau Widmer-Schlumpf anmahnt, durchaus glaubwürdig:
Wir sollen keine Burka-Diskussion führen, sondern das Recht und den Anspruch der Menschen, im öffentlichen Raum anderen mit Blickkontakt begegnen zu können:
Wer mit Menschen zu tun hat, soll ihnen ins Gesicht schauen können. Die Diskussion der Burka muss also im Umkehrschluss zur Diskussion jeder Art von Vermummung führen:
Ist es zulässig, dick vermummt als “Fussballfan” im Fussball- oder Eishockeystadion zu stehen? Ist es für eine Verkäuferin nicht geradezu unheimlich, einen Motorradfahrer im Tankstellenshop zu bedienen, der mit geschlossenem gespiegeltem Integralhelm vor ihr steht? Was gewichten wir mehr? Die Angst, scheinbar gläserne Bürger zu sein oder die Vertrauensbildung einer gewissen Offenheit im Auftritt Aller im öffentlichen Raum?
Die hier angeregte Diskussion ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein scheinbar auf Immigranten gezielter Angriff dazu führt, dass wir jenseits aller kulturellen und religiösen Bedürfnisse zum Bewusstsein finden müssen, wie wir das Gegenüber zu respektieren haben – und wie wir uns dabei nach den Gepflogenheiten zu richten haben, die dafür in der Gesellschaft anerkannt gelten. Bei uns. Ich persönlich bin für ein Vermummungsverbot auf öffentlichen Plätzen, in öffentlichen Lokalen und Geschäften, etc.
Und siehe da: Schon ist es keine auf eine Minderheit zielende Debatte mehr, die emotionalisiert werden kann. Und damit auch diese Gefahr gebannt:
Wenn wir für eine Burkaträgerin hinter deren Schleier denken wollen, dürfte es uns nicht selten passieren, dass wir dahinter eine Konvertitin zum islamischen Glauben finden, welche so was von freiwillig und fern aller Unterdrückung tragen will, was sie trägt.
Aber es geht gar nicht darum. Es ist viel banaler. Und nichts ist daran falsch, dies auch so anzugehen.
Ich für meinen Teil gehe dann mal wieder fernsehen.
Oder so was in der Art…
Muslime: Zentral scheint nur Ratlosigkeit zu sein...
Seit der Abstimmung über die Minarettinitiative ist viel Zeit vergangen. Zeit genug auf jeden Fall, dass aus der scheinbar allgemeinen Entrüstung über einen Schweizer Volksentscheid ein weiteres Lehrstück über die Funktionsweise der Medien geworden ist – und leider auch eine Demonstration dessen, wie muslimische Interessenorganisationen mit den Fragen der Integration umgehen – gefangen in einer Art Hilflosigkeit – oder in den eigenen partikulären politischen Interessen.
Es waren ein paar Interviews nachzulesen mit Vertretern muslimischer Verbände, und natürlich wurden fortschrittliche, weltlich orientierte muslimische Frauenrechtlerinnen gehört – und ein paar Frage-Antwort-Spiele abgedruckt. Aber, mit Verlaub, haben Sie persönlich den Eindruck, es würde sich irgend etwas auch nur in kleinsten Schritten bewegen?
Ein einziges Thema findet in allen Medien nachhaltigste Beachtung: Zu den gefühlten rund dreihundert bisherigen muslimischen Verbänden ist ein neuer hinzugekommen. Offenbar hat er die gleichen Ansprüche wie die schon zu mehreren bestehden bisherigen muslimischen Verbände, die alle für sich in Anspruch nehmen wollen, die Interessen der Muslime bündeln zu können.
Diese neue Gruppierung, ich meine jene Gruppierung mit den besonders strammen und besonders bleichen und besonders bärtigen Köpfen konvertierter Muslime mit Schweizer Wurzeln, führt das Wort “Zentralrat” auch gleich im Namen und soll mittlerweile 1000 Mitglieder zählen.
Das ist ein 400stel aller Muslime in der Schweiz. Aber dieser Teil hat 98% des Medieninteresses auf sich vereinigt und macht in erster Linie einmal den Muslimen aller Richtungen vor, was denn wirkliche Medienarbeit in etwa bedeuten würde. Hierzu muss man sich nur einmal die Web-Auftritte der verschiedenen Verbände, so sie denn überhaupt diesen Namen verdienen (die Webauftritte), neben einander ansehen.
Die etablierten Führer der Muslime aber scheinen in immer neuen Wellen des Staunens über den Lauf der Dinge gar keine Worte mehr zu finden – und die Botschaften der Verteter des Forums für einen fortschrittlichen Islam erschöpfen sich irgendwie auch in den immer gleich klingenden Verlautbarungen.
Ich vermisse auf allen Seiten die Fähigkeit zum Dialog, und kann einen solchen vor allem auch zwischen den verschiedenen muslimischen Organisationen kaum ausmachen.
Derweil erschöpft sich die überkonfessionelle Wahrnehmungsdebatte muslimischer Identität anhand der Insignien im öffentlichen Raum, neuerdings auf feinstofflicherer Ebene: Vom Stein des Minaretts zur Beschaffenheit der weiblichen Kleidung.
Auch diese Debatte kann geführt werden. Oder könnte. Entscheidend aber wären die Bekenntnisse zur Teilnahme an jener Art öffentlichem Leben, die bei uns zur Ausbildung aller Bürger und zur Ausübung der Bürgerrechte gehörten. Und hierzu gibt es nach wie vor keine klaren Bekenntnisse, die an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig liessen.
Stattdessen kann man die oben schon erwähnten Bärtigen vernehmen, die eine Sharia “selbstverständlich nicht angewendet sehen wollen, da man ja hier in einem mehrheitlich demokratischen Staat lebe”.
Und genau dies bleibt wohl die Krux für uns Menschen mit westlich-christlicher Kultur im Umgang mit Muslimen: Wir glauben zu wissen, dass, wäre die Mehrheit der Einwohner muslimisch, ein drastischer Wechsel der Präferenzen und der Grundwerte stattfinden würde – und dass, im Schutze einer entsprechenden Bewegung, so manche zusätzliche Kraft zu wirken begänne, die überall dort schlummert, wo in Parallelgesellschaften Menschen bei uns leben, welche unsere Gesellschaft als wertlos, minderwertig und moralisch unterlegen betrachten.
Eine solche Sichtweise ist einem überzeugten religiösen Herzen eigen – nicht nur im Islam. Und darum, genau darum reicht es nicht aus, nur den Reflexen zu vertrauen. Es braucht praktische Beispiele des Dialogs und Austauschs, Lebensmodelle moderner Muslime – die westliche Demokratie leben und glauben wollen und können – und es braucht explizit das Engagement jener 85 oder noch mehr Prozent, welche mit muslimischen Wurzeln weltlich unreligiös europäisch in der Schweiz leben wollen: Gerade sie sollten erkennen, dass es eine Aufweichung der Grenzen braucht, welche bisher jeden wirklichen Dialog in den massgeblichen Fragen der religiösen Riten und inhaltlichen Überzeugungen verhindert hat.
Muslime aller Präferenzen – macht Euch die Integration in der Schweiz endlich zur allgemeinen Aufgabe. Und wir Ein-heimischen sollten die Herzen für alle diese Versuche öffnen und auch immer wieder Vertrauen für solche Versuche aufbringen – und bei allen unseren Forderungen für das Bekenntnis zu unseren Werten des Zusammenlebens uns auch bewusst sein, dass damit auch gefordert wird, dass wir mit unseren eigenen religiösen Riten keinerlei Druck und Rechthaberei aufbauen sollten:
Wir sollten alle dem Staat geben, was der Staat braucht, um für uns den öffentlichen Raum gemeinsam lebbar zu machen – und allem misstrauen, was uns vermuten lässt, wir hätten die einzige Wahrheit gefunden.
Und wenn wir das schon glauben, dann sollten wir auch wissen, dass diese Wahrheit keinerlei Gewalt benötigt, um sich behaupten zu können. Und dass sie alle Zeit hat, mit friedlichen Mitteln überprüft zu werden, vertieft, gestärkt.
Wir hätten im Miteinander so viele unermessliche Vorteile zu entdecken…
Oben mehr trennen, unten mehr mit einander leben
Ich kann es bedauern, dass verschiedenste muslimfreundliche oder muslimkritische Organisationen nach dem Ergebnis der Minarett-Initiative das Aufbrechen der vorhandenen Probleme nicht dazu genutzt haben, Dialoge zu fordern, die zu Lösungen führen könnten.
Ausser Deklarationen, Statements, Anklagen ist nichts geschehen. Wir sind weit davon entfernt, dass sich konservative Kreise vermehrt erklären würden. Moderne Verbände wie das Forum für einen fortschrittlichen Islam wiederholen ihre Positionen, Randgemeinschaften am liberalen Flügel der Muslime wie die Aleviten waren oder sind froh, dass ihren Positionen mehr Beachtung geschenkt wurde. Es werden auf allen Seiten Gelegenheiten zur Darstellung der eigenen Position genutzt. Aber niemand bewegt sich wirklich. Und das ist nicht nur der Fehler der konservativen Verbände.
Tatsache ist wohl: Die Gräben sind viel tiefer. Und Wille und Energie, diese zu beseitigen, fehlt. Auf allen Seiten.
Es wird nur eines übrig bleiben: Die fortschreitende, immer konsequentere Trennung von Kirche und Staat. Die aktullen Debatten um die katholische Kirche passen da ganz gut ins Bild. Es wird wohl keine Vorgabe als die komplett säkulare Ausrichtung der Staatsraison einfach und klar genug sein, um wirklich gerechte Bedingungen für alle durchzusetzen – und dabei auch nicht zu verwischen, was an Toleranzbeweisen auch dazu gehört.
Erneut frage ich aber nicht vor allem, wo die konservativen oder traditionell orientierten, die religiösen Muslimverbände bleiben? Ich frage nach den weltlich orientieren Muslimen, auch nach den Frauenorganisationen, welche konkreten Angebote für mehr Dialog sie machen können? Es sind Ideen gefragt, nicht Dogmen. Und zwar auf allen Seiten. Dass dies wirklich so werden kann, dazu brauchen wir die rechtsstaatliche, religionsfreie Durchsetzung westlicher Grundwerte der Demokratie. In anderen Bereichen ist es um das Wertebewusstsein bei uns bestimmt nicht besonders bestellt. Hier aber wird sich entscheiden, ob wir wissen, was es wert ist, in einem wirklich freiheitlichen Staat zu leben. Vielleicht ist es ja da ganz gut so, dass sich das am scheinbar sachlicheren Beispiel des Umgangs mit Bankdaten der scheinbar so fernen und elitären Geldsäcke entscheidet…
Herrschaft, wie korrumpierbar sind wir in der Verteidigung unserer Grundwerte geworden, nicht wahr? Es gibt immer ein Unrecht der anderen, das scheinbar weit weg von eigener Betroffenheit liegt, wenn es darum geht, mit ein bisschen Beugung die Grädung der passenden Moral anstreben zu können…
Die fehlende Ordnung im islamischen Haus der Schweiz
Schweizer Muslime werden in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen – und schon gar nicht ausgewogen im Verhältnis ihrer zahlenmässigen Präsenz. Nur so ist es möglich, dass im Bewusstsein der Schweizer vor allem Statements islamischer Exponenten aus dem Ausland haften bleiben, ohne dass die Schweizer Positionen der hiesigen Muslime dazu klar würden. So erhalten extreme bis zumindest stark konservative Positionen in den Medien überproportional starkes Gewicht.
Es ist möglich, dass es auch die einzigen sind, über welche die Medien rapportieren, ohne dass sich die Exponenten dahinter besonders darum bemühen müssten. Hier besteht ein Informationsauftrag, der ausgewogener wahr genommen werden muss.
Allerdings gibt es dabei auch eine grosse Schwierigkeit: Wie kann es gelingen, gerade die grosse Gruppe weltlicher Muslime, für welche die Religionszugehörigkeit ein Stück kulturelle Identität aber keine Glaubensgrundlage ist, zu motivieren, sich mehr öffentlich zu äussern? Woran liegt es, dass dies nicht schon geschieht? Gibt es in den muslimischen Familien- und Gemeinschaftssituationen eine Drucksituation, welche eigene weltliche Positionen, auch noch öffentlich geäussert, illoyal erscheinen lässt? Gibt es die Angst, dass das Aufbrechen der tatsächlich sehr ausgeprägt heterogenen Zusammensetzung der muslimischen Bevölkerungsgruppe den Muslimen als Ganzes eher schaden statt nützen könnte?
In der Sternstunde Philosophie sprach Hisham Maizar von der Notwendigkeit, mehr Ordnung im islamischen Haus in der Schweiz herzustellen: Die Vielfalt der Gruppierungen und Vereinigungen ist immens, der Begriff “Dachorganisation” in diesem Zusammenhang eher eine Wunschvorstellung. Der Schweizer Journalist Beat Stauffer hat schon im Juli 2007 in einem Artikel in der NZZ darauf hingewiesen, dass die Gemeinschaft der Muslime eher ein Traum denn eine Realität ist:
Es gibt mehr als 300 verschiedenen Moscheevereine, islamischen Stiftungen und Verbände in der Schweiz. Wahrhaft orientalische Verhältnisse einer verwirrenden Vielfalt, welche auch zu zwei statt einem Dachverband führen. Die Namen dieser Organisationen drücken den Wunsch nach mehr Einheit deutlich aus:
Die Koordinationsstelle Islamischer Organisationen Schweiz (KIOS)
und die
Föderation islamischer Dachverbände Schweiz (FIDS).
Im Artikel werden die charismatischen Persönlichkeiten hinter diesen Organisationen skizziert – auch sie stehen offensichtlich in einem Konkurrenzverhältnis. Der iranische Entwicklungssoziologe und Dozent der Uni Bern, Farhad Afshar (KIOS) und der in Palästina geborene Mediziner Hisham Maizar mit Arztpraxis in der Ostschweiz (FIDS). Ihr Auftreten zumindest ist grundverschieden: Schon mal nassforsch und virulent anklagend der eine, eher pragmatisch und die kleinen Schritte anstrebend der andere.
In der Sternstunde Philosophie- wurde die Zahl der wirklich konservativen Kräfte in der Schweiz als sehr gering betrachtet. Maizar hat mit seinem moderaten Kurs denn auch schnell rund 150 Vereinigungen für seine Organisation gewinnen können. Grosse kantonale Dachverbände aus Zürich, Basel und Bern sind aber weiterhin der KIOS angeschlossen. Beat Stauffer schien auch zu beobachten, dass die meisten islamischen Vereine in der Schweiz “eine eher konservative Auffassung des Islam” vertreten würden, während Maizar diese als “eher moderat” bezeichnet und meint, sie hätten begriffen, dass sie in der Schweiz und nicht in ihrer Heimat lebten. Die Sympathisanten islamistischer Gruppierungen würden hier “nie dominant werden” – aber ganz offensichtlich sind sie unter den Muslimen aus arabischen Ländern recht zahlreich vorhanden. Säkulare Muslime warnen denn auch durchaus vor wahhabitischen Einflüssen über diese Kanäle. Diese Warnungen aber sind Wortmeldungen ganz vereinzelt sich äussernder Intellektueller. Wenn davon ausgegangen wird, dass rund 80% der Schweizer Muslime so weltlich ausgerichtet leben, wie es für den Grossteil der Schweizer gilt, so steht die eine einzige Organisation säkularer Muslime, das FFI (Forum für einen Fortschrittlichen Islam), welche es in der Schweiz gibt, im krassen Missverhältnis zu den 300 religiösen Verbänden des Landes…
Die Chance zu einer Veränderung mit mehr Verständigung bietet sich dort, wo auf regionaler Ebene der Dialog unter den Muslimen funktioniert (auch mit den Nichtmuslimen?). Laut Beat Stauffer gibt es dafür Beispiele. Die grosse Frage bleibt nur: Wo sind die Wortmeldungen der “modernen” Muslime, und wie vermögen Sie sich zu organisieren? Wie viel auch politischen Willen gibt es hierzu überhaupt?
Wir werden dabei nicht einfach von aussen zuschauen können. Wir haben vielmehr die Aufgabe, mit der selbst neu belebten Werte-Debatte klare Zeichen zu setzen, welche Prinzipien für Bürger aller Religionen und Überzeugungen unverrückbar und gleichberechtigt und gleich verpflichtend gelten sollen. Dass wir dabei uns neu bewusst werden, dass wir diese Überzeugungen auch selbst leben müssen, leben dürfen, wird auch nicht zu unserem Schaden sein.
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Muslimische Organisationen in der Schweiz im Netz:
KIOS bei Inforel.ch (eine eigene Web-Seite der KIOS habe ich nicht gefunden)
FIDS – auch rudimentär, aber immerhin…
Vereinigung der islamischen Organisationen in Zürich
Basler Muslimkommission, zur Zeit eine Baustelle. Mehr bei inforel.ch
Islamischer Kantonalverband Bern mit einem ganz aktuellen Beitrag über die aktuell bevorstehende Aktion eines Friedensgrusses
Verband Aargauer Muslime
Stiftung Islamische Gemeinschaft Zürich
Forum für einen fortschrittlichen Islam
Ahmadiya Muslim Gemeinde Schweiz
Föderation der alevitischen Gemeinden in der Schweiz
Portrait von Beat Stauffer über Farhad Afshar, erschienen u.a. auf
onlinereports.ch
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Dieser Text ist abgelegt in Islam[-Debatte] und Werte-Debatte
Muslime in der Schweiz - eine Zusammenfassung der "Sternstunde Philosophie"
Das Gespräch in Sternstunde Philosophie auf SF1, heute um 11h00, war tatsächlich sehr sachlich und darauf angelegt, alle Positionen darzulegen und eine echte Auslegeordnung zu machen.
Selbstverständlich sind in dieser Stunde nicht alle Probleme angesprochen – oder gar diskutiert worden.
Hier gebe ich Zusammenfassung des Gesprächs wieder, auf Grund von Stichworten, die ich mir aufgeschrieben habe. In weiteren Artikeln werde ich mich dann zu offenen Fragen äussern – oder gerne auch Ihre Kommentare aufnehmen:
Gesprächsteilnehmer:
Pfr. Thomas Wipf, Präsident des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK
Dr. Hisham Maizar, Präsident der Föderation Islamischer Dachorganisationen in der Schweiz (FIDS)
Frau Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements EJPD
Gesprächsleitung: Norbert Bischofberger
1)
Hisham Maizar sagte einleitend, dass “wir Muslime” sich sehr wohl als Teil der Schweizer Gesellschaft fühlten und nun um die Wiedergewinnung eines Vertrauensgefühls würden ringen müssen.
2)
Frau Bundesrätin Widmer-Schlumpf betonte den Umstand, dass diese Abstimmung zu einer Werte-Debatte führen würde, welche endlich die Schweizer selbst sich mal fragen liesse, welche Werte denn für sie wirklich zentral wären (und für die entsprechend eindeutig eingetreten werden soll).
3)
Hisham Maizar wies darauf hin, dass Minarette nirgends im Koran erwähnt werden, sie aber seit Jahrhunderten zur kulturellen Identität der Muslime gehören würden.
4)
Die Spekulationen, was allfällige Rechtshändel beim europäischen Gerichtshof für Konsequenzen haben könnten, wurden relativ kurz gehalten. Klar ist, dass auch der Beitritt der Schweiz zum Europarat und zur EMRK ein Volkswille war, der dann auch zu beachten wäre [und deshalb die Schweiz nicht einfach so die EMRK aufkündigen würde, wie es Teile der SVP schon vorausgedacht haben, Th.] Quintessenz: Alles sind Fragen in einem demokratischen Prozess, und dieser läuft weiter.
5)
Thomas Wipf wird von allen in der Meinung bestätigt, dass es nun darum geht, in der Schweiz selbst pragmatische Lösungen zu suchen – und diesen Prozess nicht durch Drohungen eines Rekurses nach Strassburg, der eh erst in mehreren Jahren möglich wäre, zu behindern [oder zu vergiften? – Th.]. Selbst Herr Maizar meint, dass sich das in Wil von ihm mit begleitete Gesuch für ein islamisches Zentrum nach dem geltenden Recht richten müsse, und das bedeute nun eben, Eingabe ohne Minarett.
6)
Wipf fordert die Schweizer Muslime dazu auf, sich dezidiert zu den Menschenrechten zu bekennen. Erklärungen von Muslim-Gemeinschaften im Ausland (sog. Kairoerklärung ) wären da problematisch und müssten von den Schweizer Muslimen zurecht gerückt werden. Maizar entgegnet, dass die Menschenrechte sehr wohl auch islamisches Gedankengut wären, und dass man dahin kommen müsse, die Unterschiede nur in der Art und Weise ihrer Anwendung zu sehen – die Grundwerte aber wären als übereinstimmend zu betrachten.
7)
Daraufhin steht die Frage wieder im Raum: Wie denken Schweizer Muslime über die Religionsfreiheit in muslimischen Staaten und über die Schweizer Grundwerte?
8)
Alle am Tisch fordern “mehr Ordnung im islamischen Haus der Schweiz”. So führt die Eidgenossenschaft schon länger Gespräche an einem runden Tisch mit Glaubensgemeinschaften monotheistischer Religionen, und Frau Widmer-Schlumpf betont die Schwierigkeit, dass es auf muslimischer Seite drei grundsätzlich verschiedene Richtungen gibt:
Eine extrem offene, sehr moderne Richtung, in der übrigens sehr viele sehr freie Muslime explizit für ein Verbot von Minaretten waren, eine gemässigt religiöse Richtung, zu der Herr Maizar zu zählen ist, sowie eine sehr konservative, verschlossene Fraktion, die aber sehr klein sein soll.
Dabei betont Frau Widmer-Schlumpf, dass zu diesem Dialog auch der Austausch mit nicht-religiösen Bürgern ganz wichtig ist.
In allen diesen Dialogen ist ganz klar, dass der Staat das rechtliche Primat hat.
9)
Hisham Maizar definiert selbst Integration mit mehr als nur Anpassung: Für ihn gehört dazu der aktive Beitrag zur “Befestigung des gültigen Systems”.
10)
Aufgabe des Staates kann es nicht sein, die Vereinigung der Gemeinschaften aktiv zu betreiben – er kann aber nur Gemeinschaften unterstützen, die sich nicht gegenseitig ausschliessen und man kann von ihm die Gleichbehandlung solcher Gemeinschaften verlangen.
Thomas Wipf weist darauf hin, dass der Staat nicht der Hüter der Religionen ist, sondern des freien Gestaltungsraums, in dem Religionen gelebt werden können.
11)
Integration ist ein langer Prozess. Jüdische Gemeinschaften brauchten 200 Jahre, um wirklich das Gefühl zu haben, akzeptiert zu sein.
12)
Die fordernden Ansprüche vieler Muslime nach dem Selbstverständnis ihrer kulturell-religiösen Identität dürfen die Respektierung unserer Grundwerte in keiner Weise einschränken. Dazu gehört das gleiche Bildungsrecht für Mädchen und Buben – in allen Bereichen.
13)
Die Integration ist nicht gescheitert. Sie ist auch nicht nur eine religiöse Frage und wird erst seit zwanzig Jahren diskutiert. In einem solchen Zeitraum kann so ein Prozess gar nicht abgeschlossen sein.
14)
Thomas Wipf fordert den Grundkonsens ein, der hergestellt werden muss in Fragen der Wahrheit [Umgang mit anderen monotheistischen Religionen, Th.], des Rechtsstaates, des Pluralismus, zwischen den Geschlechtern. Hierzu braucht es die Mitwirkung aller. Aber auch der Muslime.
15)
Maizar fragt nach dem freien Raum zur Äusserung für Muslime und wünscht sich daraus die öffentlich rechtliche Anerkennung des Islam, vergleichbar mit den anerkannten Landeskirchen. Dazu verweist Widmer-Schlumpf darauf, dass der Bund nur die Regel vorgibt, dass das Primat des Staates akzeptiert werden muss, die konkrete Entscheidung aber Sache der Kantone ist.
16)
Der Staat an sich ist immer wertneutral. Die Werte kommen von den Bürgern. Entsprechend weit gefasst wird auch das Initiativrecht.
17)
Internationale Reaktionen zeigen nach einem ersten Erschrecken, dass die Schweiz ein Thema öffentlich macht, das ganz Europa etwas angeht. Entscheidend ist jetzt, was daraus gemacht wird, wie weiter diskutiert wird – und damit Demokratie lebendig gelebt wird. Das Einstehen für die humanitären Traditionen wird in diesem Prozess auch weitergehen und von grossen Teilen der Bevölkerung getragen werden.
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Wiederholungen der Sternstunde Philosophie:
Montag, 11. Januar 2010 um 02.50 Uhr auf SF1
Dienstag, 12. Januar 2010 um 12.00 Uhr auf SFinfo
Mittwoch, 13. Januar 2010 um 04.30 Uhr auf SF1
Samstag, 16. Januar 2010 um 08.55 Uhr auf SF1
Sonntag, 17. Januar 2010 um 09.15 Uhr auf 3sat
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