Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Mongolei 2006 - Tag 3 (1)

∞  24 April 2007, 15:30

Gereist am 9. Juli 2006, vom Ogiy-See nach Tsetserleg


Viel Öl, wenig Wasser…



Frühmorgens drängen wir ins Freie, denn dahin lockt uns die Morgensonne, auch wenn der eine oder andere noch recht verschlafen in den Tag blinzeln mag.

Es liegt eine packende Stille über dem Camp. Tatsächlich betäubt mich der Unterschied der Farben: Was gestern unter rauhen Wolken grau und dunkel vor uns lag, strahlt nun in hellstem Licht die pure Lebensfreude aus.
Obwohl unsere eigene hölzerne Jurte wenig mit der Behaglichkeit eines echten Gers zu tun hat, und schon gar nichts mit der Prachtjurte, die in diesem Camp besichtigt werden kann,

frühstücken wir mit Genuss und machen uns auf den für mongolische Verhältnisse kurzen Weg nach Tsetserleg.

Im warmen Sonnenlicht ist der Ogiy-See tiefblau, und die saftig grünen Weiden versprechen reiches Futter.

Tatsächlich sehen wir zahlreiche grosse Herden mit Schafen und Ziegen. Sie finden mehr als genug Nahrung. Es ist die Zeit des Überflusses. Wir halten an einem Ausläufer des Sees an, und Thomas bringt ein erstes Mal sein Spektiv in Stellung, um die Vögel zu beobachten. Plötzlich schwillt hinter mir ein Rauschen und Brodeln an, das links über meiner Schulter am Abhang ein Trommeln wird, und schon prescht eine grosse Pferdeherde dicht an mir vorbei zum Wasser. Die Tiere drängen mit Macht zur Tränke, und es wäre keine gute Idee, sie aufhalten zu wollen…

Diese Kraft, diese fliessenden und eleganten Bewegungen zu sehen, sie gar körperlich zu spüren, ist ein wunderbares Erlebnis, ein Sinnbild für lustvoll gelebte, nicht unterdrückte Freiheit. Alle diese Tiere sind domestiziert, aber die Menschen leben mit ihnen, statt umgekehrt. Werden sie gebraucht, so holt man sie von der Weide, ohne Strecke und Zeit dafür zu scheuen.

Wenig später scheuchen wir eine Schar Geier auf, die sich an einem Pferdekadaver nieder gelassen haben. Auch sie sind grösser, als wir sie in Erinnerung haben. Überhaupt scheint ein “Mehr” die Reise zu prägen. Im Vergleich mit 2002 gibt es mehr Regen, mehr Nahrung, mehr kräftige Tiere. Aber der Tod bleibt real, und jede sattgrüne Woche ist keine Garantie für das Überstehen des Winters. Ich vermute mal, dass sich seit 2002 die Tierbestände erst allmählich vom katastrophalen Winter 2000/2001 erholten, als ein schlimmer Zud zu einem Massensterben der Tiere führte.

Die Fahrt nach Tsetserleg sollte eigentlich nur drei Stunden dauern, aber wir haben unterwegs ein kleines Malheur zu beheben: Baktar fährt eine kleine Böschung etwas zu heftig an, so dass die Kochkiste sich rumpelnd und scheppernd aus dem Kistenverbund hebt und sich kopfüber entleert. Kaputt geht nix, aber das Besteck sammeln wir einzeln zwischen den Taschen wieder ein. Leider war die Kiste auch Heimat des Salatöls, und diese Flasche ist leck, so dass wir eine tolle Sauerei aufzukleckern haben und dafür bei mässigem Erfolg eine ganze Menge Klopapier zweckentfremden. Das Öl ist auch in sämtliche Gummidichtungen der Hecktüre gedrungen, und das hinein gestopfte WC-Papier bekränzt die Bescherung mehr, als dass es sie beseitigt…

In Tsetserleg angekommen, fahren wir direkt zum örtlichen Touristencamp, in dem uns Onos Eltern Plätze reserviert haben. Restaurant und Karaoke-Bar (!) sind in einem rund gemauerten Gebäude untergebracht. Jurten und Einrichtungen sehen gepflegt aus und laden dazu ein, sich zu erfrischen, denn in einer knappen Stunde soll das Familienfest beginnen, mit dem Onos Eltern samt Familie die Heirat ihrer Tochter mit Thomas nachfeiern wollen.

Als wir die Dusche ausfindig machen wollen, stossen wir in diesem an sich fast neuen Gebäude auf ein Phänomen: Die Türen zu Waschräumen und Duschen, so es sie denn geben mag, sind verschlossen. Hinter einer massiven, abgeschlossenen Tür hören wir Ono duschen, und ich würde gern von ihr erfahren, wo sich denn ihr “grosses Pferd” (Thomzeck, wie sie ihn liebevoll nennt) für das gleiche Tun hin vergaloppiert hat. Das kann sie mir allerdings so unzureichend beschreiben, dass ich ihn nicht finde. Das Duschwasser aber plätschert so angenehm im Gehör, dass das, was ich zu sehen kriege, um so mehr ein Hohn und eine Absurdität für mich ist: Die westlichen Toiletten sind entweder abmontiert, oder der Spülkasten ist zersplittert, und sämtliche Leitungen sind abgeriegelt.
Im Vorraum an zwei Waschbecken öffnen wir die Wasserhahnen, mit dem Ergebnis, dass wir schliesslich vor trockenen Ausgüssen mit den Füssen im Wasser stehen. Die einzige Leitung mit Wasser ist leck und kleckert das kostbare Nass auf den Boden statt in die Lavabos…

Wir behelfen uns also mit Mineralwasser und verziehen uns ziemlich fassungslos ob dieser Panne – das Camp ist immerhin praktisch neu – zurück in die Jurte, um uns umzuziehen. Zeit um auf Onos Ende der Körperpflege zu warten, ist nicht, und drängen wollen wir sie auch nicht. Immerhin ist sie ja die Hauptperson des Anlasses und soll ihre Ruhe dafür haben.

Selten habe ich so absurd erfahren, wie sehr eine an sich funktionierende Infrastruktur vergammelt, weil Gleichgültigkeit und fehlendes Engagement des Personals so wunderbar zu den Widerwärtigkeiten und der Mühsal der Wartung passen… Und es wird noch absurder werden…

Thomas und Ono haben letztes Jahr fernab der Mongolei, in der Nähe von Dortmund, geheiratet, und dies ist der Moment für die Familie, einen genaueren Blick auf Thomas, den grossen Deutschen ( “er ist gross wie ein Pferd” ) werfen zu können.

Als wir den Speisesaal des Rondells betreten, sitzen einheimische Gäste in versprengten Grüppchen verloren im Raum herum, kleben zum Teil an den Wänden wie Schafe, die nicht zusammen getrieben werden wollen. Das wird sich schon geben, denke ich, und beweise damit Weitblick, wie sich zeigen wird. Wir steuern Thomas an, um ihm allenfalls benötigten moralischen Support zu geben. Er scheint das allerdings ziemlich gelassen zu nehmen, obwohl er genau so wie wir keinen blassen Schimmer hat, was ihn erwartet. Wir vertreiben uns die Zeit mit einer Aufzeichnung im Fernsehen vom WM-Fussball-Spiel Deutschland gegen Portugal. Soviel wir begreifen, führt Deutschland 2:0.