Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Zwei Leben im späten Herbst

∞  12 November 2008, 07:00

Ich war kürzlich am Greifensee spazieren. Wieder einmal wurde mir bewusst, welche Besonderheit dieses Stück Natur darstellt, mitten im rege überbauten Siedlungsgebiet nahe der Stadt Zürich. Weite Teile der Ufer “gehören” der Öffentlichkeit. Spazierwege durch Moore und Naturschutzgebiete, Radwege, riesige Bäume.



AM GREIFENSEE (C) THINKABOUT


Ich weiss nicht, welcher Immoblilenmakler bei der Nennung der Preise für Wohnraum in der Umgebung nicht auf das Naherholungsgebiet hinweisen würde, aber es ist auch wirklich eine ganze Menge wert. Eigentlich ist es unbezahlbar.

Es ist eine Ruhe um mich, die Sonne wärmt, als wäre noch September, dabei stehen die Bäume in den leuchtendsten Novemberfarben da und wissen um das nahe Ende. Überall beginnen rot-gelbe Teppiche sich feucht auf noch immer grüne Wiesen zu legen. An diesem Tag hat das leuchtende Blau des Himmels jede Dunstschwade weg gebrannt, und ich blinzle in die Sonne, muss die Augen zukneifen, während ich mich auf einer krummen Bank ausstrecke.

So sehr macht mich die wärmende Sonne blind und taub, dass ich die Frau mit ihrem Hund gar nicht höre noch sehe, bevor sie mich anspricht: Ob hier noch frei sei, fragt sie, denn sie brauchten nun eine Pause. Durch tanzende Sonnenpunkte vor meinem Gesicht blicke ich in traurige Augen, zu denen die stumpfgrauen Strähnen passen, die sich die Alte aus dem Gesicht streicht, kaum hat sie ihre Frage, die eigentlich mehr eine Aufforderung ist, ausgesprochen. Dennoch rücke ich bereitwillig zur Seite. Schliesslich ist die Bank für alle da und breit genug ist sie ja auch.

Wieder einmal ist es ein alter Mensch, der mir gegenüber sein Bedürfnis klar und deutlich formuliert, wie jemand, der nicht mehr allzu viel Zeit hat, um zu seinen bescheidenen Rechten zu kommen.

Die Frau ist nicht allein. Ein Hund mit dunkelbraunem Kurzhaarfell und hängenden Ohren steht vor mir. Mühsam schiebt die Alte das Hinterteil ihres Vierbeiners so zur Seite, dass sich dieser zwischen unsere Beine legen kann.

Warum nicht die Freude an diesem Tag mit dieser Frau teilen? Ich schwärme also von der Sonne und den Farben, und wie herrlich es sei, hier sein zu dürfen. Doch meine Sitzgenossin ist traurig. Ihre Stimme klingt müde, denn der Hund ist krank. “Dabei ist er erst fünfeinhalb. Das ist für einen Hund nicht alt”, sagt sie. Natürlich ist es das nicht, und während ich in seine müden Augen blicke, höre ich, was ich schon vermutet habe: Er hat ein böses Bein, ist operiert worden, doch es wird kaum besser. Jeder Schritt vor die Tür ist eine Qual für ihn. “Ich werde ihn einschläfern müssen.”
Ich frage, welches Bein denn das kranke wäre, und greife dem Tier dann ans linke Vorderbein, umschliesse es mit weicher, streichelnder Hand, bleibe ganz ruhig bei ihm, beuge mich dabei tief vornüber und bleibe ansonsten unbeweglich kauernd sitzen. Sein Atem beruhigt sich, seine feuchte Zunge schleckt über meinen Handrücken. Dann stupst mich der Hund mit feuchter Nase an, leckt mir das vornüber gebeugte Kinn. Ich beginne, mit meiner Hand höher zu fahren, spüre nur Haut und Knochen, kann nicht helfen, nur wissen, was der Hund auch weiss.

Die Frau wird sich von ihm trennen, statt selbst gehen zu können. Sie wird einen grossen Trost verlieren und einen sehr grauen Dezember erleben.

Ihren Hund aber werde ich nicht vergessen. Die demütige Ergebenheit, mit der er vor mir hockte und mir von seinem Leiden erzählte, und wie er doch in diesem Moment ohne Bitterkeit zu sein schien, ja mir noch ein Stück meiner aufkommenden Traurigkeit aus den Gedanken wischte: Das wird mir bleiben. Es hatte eine Art von Würde, die auch nicht zerstört wurde, als das arme Tier neben der Alten davon humpelte, wobei es links vorn kaum aufzutreten vermochte.

Wie waren diese Beiden an diesen Ort zu mir auf die Bank gelangt, für dieses Tier absurde mehrere hundert Meter von jedem Auto oder Haus entfernt?

Wir Menschen mögen einander manchmal für Gefühlsdusel verlachen. Wir mögen in genau solchen Momenten anfügen, dass wir nur sehen und fühlen, was wir wollen, was wir hinein interpretieren im Zustand unserer momentanen Stimmung. Und doch ist mir bewusst, dass die Alte neben mir auf der Bank ein weiteres Stück Mut gesucht hat für das Unvermeidliche. Ich hoffe, sie hat etwas davon gefunden. Mag es auch noch so traurig sein.
Ich wünsche ihr Menschen, die ihr selbst Hände auflegen und sie in den Arm nehmen, ich wünsche ihr Herzlichkeit und ein wenig Aufnahme in erlebter Gemeinschaft. Und ich muss an unsere Gesellschaftsordnung denken, die, rational völlig konsequent, Pflegesysteme für unsere Alten erschaffen hat, während wir unserem scheinbaren Leben nachhecheln. Diese Systeme sorgen für unsere Alten. Manchmal finanzieren sie sogar einen Hund.

Schön wäre halt, sie würden mehr solche Begegnungen möglich machen. Aber ich weiss, das liegt nicht am System. Das liegt an uns und an dem, was wir in dieser Hinsicht zuzulassen bereit sind.



DIE BANK, AM GREIFENSEE (C) THINKABOUT


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Der Text wird in einigen Tagen in die Sektion ERZäHLT verschoben.




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