Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ein paar Stücke Erinnerung aus unserer Strasse

∞  28 Januar 2010, 21:49

Zwanzig Jahre lang war dieser Strasenzug meine tägliche Kulisse, wenn ich zum Büro fuhr oder ging. Mitten darin ein Mietshaus, nicht anders als jene, die links und rechts sich anschliessen. Kein Lift, fünf Stockwerke. Als Student hauste ich unter dem Dach. Auch später wohnte ich hier nicht. Ich arbeitete hier, schaute täglich auf den Hinterhof hinaus, den wir mit der benachbarten Häuserzeile bildeten, welche die Ausfallstrasse dahinter ein wenig von uns weg drückte.

Von Zeit zu Zeit konnte ich unten unsere Hausmeisterin beobachten. Sie hielt sich oft und gerne da auf, immer länger als nötig, wie mir schien, aber das spielte keine Rolle, das Resultat der fahrigen und längst zittrig gewordenen Arbeit im Hof, das Kehren und Wischen, wurde eh nie fertig. Doch was sie noch immer gut sah und sofort erfasste, war der Moment, wenn ihr Pendant, die alte Frau vom grössten Häuserblock dieser benachbarten Gebäudezeile aus der Tür trat, ihrerseits unterbeschäftigt und immer ein bisschen gelangweilt, froh, wenn da jemand bereit war, zuzuhören, was es denn heute für neuen Grund gab, sich zu ärgern.
Ich allerdings vermochte mich über unsere Hausmeisterin nie zu ärgern, aber ich hielt mich ja auch raus, wenn es Stunk gab oder Unstimmigkeit, weil der Herr Chef Thinkabouts Wife noch so gerne den täglichen Umgang und damit manchmal den Irrsinn überliess, so zu tun, als wäre eine achtzigjährige Frau aus dem vierten Stock tatsächlich noch so was wie die Abwartin im Hause. Ein Umstand, an den ausser der guten Alten niemand mehr glaubte.

Wie gesagt: Konnte man Distanz halten, war das egal, und danach zurück gedacht, mochte man ein Leben vor sich sehen, das mit sehr viel Bescheidenheit und Hartnäckigkeit und mti viel Willen, jedem Tag was abzugewinnen, geführt wurde. Eines Tages wurde ihr die Handtasche auf der Strasse entrissen. Dennoch zögerte sie danach nie, aus dem Haus zu gehen. Sie bekam nicht plötzlich Angst. Sie war ein Kind der Stadtkreise 3 und 4. Sie arrangierte sich eben, so gut es ging, mit dem Lauf der Zeit. Da zeigte sich auch ihre Schwatzschwester anpassungsfähig. Sie war immerhin die erste, welche das Parterre einem Sexshop vermietete und damit gutes Geld machte, wie mit vielem anderen auch – wenn man unserer Hausmeisterin glauben mochte, und hier mochte ich es.

Thinkabouts Wife war dann eines Tages auf dem Polizeiposten bei einer Gegenüberstellung, um einen Mann zu identifizieren, der mit der Pistole in der Hand durch eben unseren Hinterhof vor der Polizei nach einer Schiesserei davon gerannt war. Da waren die Zeiten noch früher irgendwie beschaulicher, als meine Liebste am Morgen einen Junkie in der Kellertreppenecke wach rüttelte, bevor sie zum Büro hoch stieg, nicht ohne ihm gleich noch die Haustür zu öffnen, nachdem sie die Verwendung des Heroin-Spritzenbestecks erklärt bekommen hatte. Ja, es waren lange Jahre, und sie hatten nicht nur mit dem Verkauf irgendwelcher bürgerlich unbedenklicher, aber nur scheinbar wichtigen Dinge zu tun. Es war Arbeit nahe am Leben, und ich habe so manche Tonne Ware vom Hinterhof ins Lager gepackt, um zig eckige Ecken herum und dennoch selten fluchend. Denn jeder Karton bedeutete Arbeit, Prosperität, ehrliches Geschäft. Und wir waren fix, ganz besonders der Magaziner. Wenn mir die Ratte übers Lagergestell und die Schulter hüpfte, grinste er, während Ratte und Thinkabout dem Herzinfarkt nahe waren… Immerhin musste ich mich nicht vor des Magaziners Reaktionsfähigkeit fürchten und konnte ruhig weiter werkeln, auch wenn er einen Besenstiel in der Hand hielt. Der Ratte, die just in diesem Moment über den Hof lief, konnte man nur sagen: Tja, armes Ding. Falscher Ort, falsche Zeit, falscher Weg. An einem Herzinfarkt ist sie allerdings nicht gestorben…

Nun also ist das alles seit einigen Jahren Geschichte. Übrig geblieben ist nur noch ein Warenmusterlager und ein Archiv, der Rest ist zu Privatwohnungen und zu einen Ansichtskartenlager geworden. Das Quartier hat den freien Raum dankbar in Beschlag genommen, vereinnahmt, anders beseelt. Nun aber reissen sie die Strassen auf, es gibt viele Veränderungen, das Quartier wird aufgewertet durch den Wegfall der Durchgangsstrassen. Weniger Lärm, mehr Flanier-Gehsteige. Die Häuser dürften im Wert steigen, und ich vermute mal, die Kollegin unserer Hausmeisterin, die alte Frau und Sexshopvermieterin, wird nochmals ein grosses Geschäft machen. Wenn sie es nicht schon abgeschlossen hat. Lebt sie überhaupt noch? Ich habe keine Ahnung. Ich musste mich heute zwingen, mich richtig zu erinnern, was aus unserer Hausmeisterin geworden ist? Wenige Jahre, bevor wir die Büros aufgaben, zog sie ins Altersheim. Und heute, wenige Jahre danach, weiss ich nicht einmal, ob sie noch lebt. Ich muss beim nächsten Mal, wenn ich da bin, fragen, vorn am Eck, im Café, in dem wir lange, lange Jahre in jeder Mittagspause “etwas Kleines” assen und uns in die Zeitungen vergruben. Dort wissen sie alles. Die kennen jeden. Auch uns. Wir gehören eben dazu. Ein bisschen. Genau so, dass wir auch vergessen gehen werden. Aber nicht sofort und sehr lange auch nicht wirklich ganz.