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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Organspende oder Patientenverfügung?

∞  27 Mai 2012, 19:23

Es gibt so manche Frage in unserer Gesellschaft, die höchst kontrovers diskutiert wird – gerade, weil sie in ihren Auswirkungen höchst persönlich ist. Wie umgehen mit werdendem Leben, wie sich zum Ende des Lebens stellen? Was ist eigene Verantwortung, was ist zu sanktionieren, vorzuschreiben? Wie legitimiert sich die Macht, in solche persönlichen Entscheidungen einzugreifen?

Gerade weil ich mir zu Fragen wie der Legitimation von Schwangerschaftsabbrüchen oder Sterbehilfe oder eben Organspenden längst eine persönliche Meinung gebildet habe, bin ich mit der Kundgabe dieser Ansichten in aller Regel zurückhaltend. Denn es gibt dabei, stützt man sich nicht auf das Dogma einer Religion, eigentlich nur Fragen, die man stellen kann, um jedem die Möglichkeit zu geben, umfassend abzuschätzen, was seine persönlich darauf gefundenen Antworten bedeuten – aber ob es richtig oder falsch gibt, muss jeder Einzelne im Grunde am Ende selbst beantworten und dann auch ertragen, sollten sich konkrete Erfahrungen damit nicht oder unzureichend vereinbaren lassen.

Fest steht dabei doch einzig: Sich mit einer ungewollten Schwangerschaft auseinander setzen zu müssen, bedeutet auf jeden Fall eine persönliche Notsituation, die einsam und ganz allein mit allen Konsequenzen für sich selbst getroffen werden muss. Mit einer unheilbaren Krankheit einen womöglich qualvollen Tod erwarten zu müssen, ist unendlich belastend. Von einer Krankheit getroffen zu werden, welche ein Organversagen zur Folge hat – oder haben kann – ist eine schwer zu ertragende Aussicht.

Richtig unerträglich erscheint mir in diesem Zusammenhang jede Form von Autorität, welche Druck aufsetzt, statt ihn abzubauen. War dies früher die klassische Situation einer von einer Religion dominierten gesellschaftlichen Ansicht und entsprechenden Ordnungen, so wird diese Moral heute künstlich von den neuen Kräften der Gesellschaft bemüht – und diese werden sehr viel stärker als jemals zuvor von einer entsprechend ausgeprägten Gesundheitsindustrie befeuert: Es gilt als schlicht unvernünftig, sich den Möglichkeiten der modernen Medizin zu verschliessen, und der unbedingte Erhalt eines Lebens wird zum Dogma erhoben.
Nur so ist es möglich, durch die Umkehr der Erklärungspflicht bei Organspenden die Möglichkeit zur Organentnahme im Zweifelsfalle über die körperliche Integrität des Sterbenden zu stellen – und von uns zu verlangen, aktiv zu werden, also ausdrücklich bescheinigen zu müssen, wenn wir unsere Organe NICHT spenden wollen. Noch ist es – je nach Land – nicht so weit, aber fast alle “modernen” Gesellschaften bewegen sich in diese Richtung.

Genau so wie bei den diversen Kampagnen zu allerlei regelmässigen Gesundheitschecks fällt bei der Diskussion um die Organspende auf, wie einseitig die mediale Aufbereitung hierzu ist: Die kritischen Stimmen sind sehr deutlich in der Minderheit, und es gilt nahezu als Tabu, sich der Praxis der Spende lebensnotwendiger Organe kritisch gegenüber zu stellen.

Nun bin ich heute via mycomfor.com [1] auf einen Artikel in der Frankfurter Rundschau aufmerksam geworden [2], den ich in diesem Zusammenhang Ihnen Allen zur Lektüre empfehlen möchte.

Gleichzeitig führe ich daraus gerne die folgenden Feststellungen und Gedanken auf (Zitate aus dem Artikel sind kursiv gesetzt, Quellenangabe am Ende):

Hirntote zeigen klare Schmerzreaktionen wie Schwitzen, Zucken, Blutdruckanstieg und die Rötung des Gesichts. Sie treten nicht nur zufällig auf, sondern können auch konkret ausgelöst werden. Beispielsweise dann, wenn der Bauchraum zur Entnahme der Organe geöffnet wird. Dann steigen Blutdruck und Herzfrequenz sprunghaft an. Daher werden den Hirntoten in einigen Krankenhäusern sogar Schmerz- und Beruhigungsmittel gegeben.


Wie auch immer wir uns zur Frage der Organspende stellen: Wir sollten uns immer bewusst sein, dass die Diskussion um eine neue Definition des Todeseintritts ohne die veränderten Möglichkeiten der Medizin und der entsprechenden Industrie nie angeschoben worden wären:

Früher galt ein Mensch als tot, wenn sein Herz stillstand und er nicht mehr wiederbelebt werden konnte. […] Erst als es Mitte des 20. Jahrhunderts möglich war, Menschen durch Maschinen zu beatmen, reichte die bisherige Definition nicht mehr. […] Das gültige Hirntodkonzept wurde 1968 durch eine Kommission der Harvard Medical School entwickelt. Ein Jahr zuvor war es erstmals gelungen, ein menschliches Herz zu transplantieren. In der Folge entstand ein Bedarf an frischen Spenderorganen. Um die Beschaffung von Organen überhaupt zu ermöglichen, setzte die Kommission das irreversible Koma ganz pragmatisch als neues Todeskriterium fest.

Es ist nicht so, dass mit dem Hirntod der Mensch in seiner Ganzheit stirbt. Es ist allerdings höchstens so, dass wir uns diese Ganzheit in Vorstellung und Diagnose nur zurechtlegen:

Der US-amerikanische Neurologe und Kinderarzt Alan Shewmon hat schon 1998 eine Studie durchgeführt, in der er 175 Fälle dokumentierte, bei denen der Hirntod korrekt diagnostiziert und dokumentiert worden war, nach dem Abstellen der Beatmung aber nicht sofort der Tod eingetreten war. Zwischen Hirntod und Herzstillstand lag vielmehr ein Zeitraum von mehr als einer Woche bis hin zu 14 Jahren.

Was also hält uns am Leben, und was ist dieses Leben? Können wir das jemals wissen, wenn praktisch nichts so eindrücklich beweist, wie sehr Wissenschaft jeweils den Zustand unseres momentanen Unwissens bezeichnet – und diese Wissenschaft gleichzeitig sehr konkrete wirtschaftliche Interessen verfolgt?

Die Wunden von Hirntoten heilen, sie können Fieber bekommen. Männer könnten noch Kinder zeugen. In einer Studie wurden bis 2003 weltweit zehn Fälle dokumentiert, bei denen eine schwangere Hirntote ein Kind entbunden hat. Das zeigt, dass das Gehirn eben nur ein Teil des Körpers ist, der längst nicht die herausragende Funktion für die Organisation des gesamten Organismus besitzt. […] Wer warm ist, sich bewegt und sogar zeugungsfähig ist, ist ein Mensch, kein Toter.


Es wird uns noch viel schwerer gemacht, gerade, wenn wir die Technisierung der Medizin sehr wohl begrüssen und bejahen, denn im Umkehrschluss wird es sehr schwierig, Hirntoten Organe zu entnehmen:

Heute gibt es viele Fälle, in denen Menschen nur durch Maschinen überleben, denken Sie an Herzschrittmacher. Das Kriterium der Technisierung kann also kein Kriterium für den Tod sein.

Sobald die Gesellschaft anerkennen würde, dass Hirntote Sterbende sind, müsste sie die Organspende als aktive Sterbehilfe werten – und diese bejahen, ansonsten die Entnahme lebenswichtiger Organe nicht mehr möglich wäre.

Die Gesundheitsindustrie selbst schafft durch ihre Entwicklung den höheren Bedarf und ist ein wirtschaftlicher Faktor, der Mangel an Organen entsteht nicht durch geringer werdende Bereitschaft zur Spende, sondern durch die Entwicklung der Industrie:

Der Bedarf an Organen ist stetig gestiegen. Viele Patienten bekommen ein zweites, drittes oder viertes Spenderorgan. Bekannt sind bis zu sieben Re-Transplantationen. Hinzu kommt, dass durch bessere Medikamente die Altersgrenze für Transplantationen steigt. […] die Pharmaindustrie, die mit Medikamenten gegen eine Abstossung gut verdient. Der Empfänger einer Spenderleber benötigt im Jahr Medikamente im Wert von 150000 Euro.
Die meisten Erkrankungen, die heute zu Transplantationen führen, sind sogenannte Zivilisationskrankheiten, also Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes, die durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel gefördert werden
[…]Selbst wenn sich die gesamte Bevölkerung Deutschlands zur Spende bereit erklären würde, gäbe es nicht genügend Organe. Jährlich werden nur etwa 4 000 bis 5000 Hirntote in Deutschland gezählt.

Nach meiner persönlichen Schlussfolgerung bedeutet Punkt 7, dass unser diffuses Verhältnis zu diesen Fragen und die lieber nicht zu Ende gedachten Konsequenzen zwangsläufig bedeuten, dass wir mitverantwortlich dafür sind, dass der weltweite Organhandel durch die Nachfrage der westlichen Länder überhaupt solch problematische Auswüchse annehmen kann.

Patientenverfügung und Organspendeausweis schliessen sich aus:

Wenn Sie am Ende Ihres Lebens nicht von Apparaten abhängig sein wollen, scheiden Sie als Spender praktisch aus. Denn dann werden Sie nicht mehr intensivmedizinisch betreut und intubiert, also beatmet. Nur auf der Intensivstation können Sie den Hirntod erleiden. Als Organspender nehmen Sie in Kauf, dass Ihr eigenes Sterben verlängert wird. Das ist genau das Gegenteil dessen, was viele in ihrer Patientenverfügung festgelegt haben.

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Links:
[1] Nachrichtenportal mycomfor
[2] Wer noch warm ist, ist nicht tot, Interview der Frankfurter Rundschau mit Alexandra Manzei, die 15 Jahre lang Komapatienten betreut hat.