Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Hauptprobe für Brasilien

∞  15 Juni 2013, 19:20

In einem Jahr ist wieder Fussball-WM. Im geographischen Herzen aller Fussballfans – in Brasilien. Ein Jahr zuvor findet erneut der Confed-Cup statt, diese zusätzliche Geldmaschine, das Einladungsturnier für die führenden Nationen aller Kontinente, über das noch vor nicht allzu langer Zeit nur gestönt wurde: Noch ein Pflichttermin mehr… Doch für das Veranstaltungsland ist es viel mehr – in diesem Fall gilt das ganz besonders.

Brasilien. Nach dem Cliché ist in diesem Land das Samba-Lebensgefühl in allen Lagen nicht weit. Und wir lassen uns gerne anstecken vom Bild dunkelhäutiger, lockenhaariger Lebensfreude mit Hüftschwung, auf dem Fussballplatz in atemberaubende Dribblings übersetzt. Doch es ist so, wie es immer schon war: Kein Team zaubert so schön und lässt gleichzeitig die Fans im nächsten Augenblick verzweifeln: Jugendlich ungestüm, naiv, fragil in seinem Enthusiasmus, der auf dem Feld fast so schnell in Verzweiflung umschlagen kann wie auf den Rängen.

Deshalb hat Brasilien – nicht gerade im Stil einer umsichtigen Vorbereitung, sondern vielmehr als Retter für die ausgemachte Seenot der Seleçao – Felipe Scolari als Trainer geholt. Das hat schon 2002 funktioniert, trotz aller Kritik über den bärbeissigen Anti-Charme seiner Defensiv-Predigten. Doch Scolari kann dem Team auf dem Platz nicht Spielgestalter sein. Und genau an dieser Stelle fehlt der Auswahl der umsichtige Lenker mit Erfahrung und Charisma. Junges Talent ist auch jetzt, ist immer da. Aber kann das reichen?

Heute Abend startet Brasilien im Eröffnungsspiel des Konföderationencups in Brasilia gegen Japan zum Projekt: “Eine Nation in Fussballschuhen.” Es soll ein Freudenfest für 366 Tage werden. Dann ist der Final der WM Geschichte – und Brasilien Weltmeister. In jedem anderen Fall droht eine Gefühlsdepression – genau so, wie es immer schon war. Nicht auszudenken, Brasilien verlöre im renovierten Maracanã-Stadion den WM-Final – wie damals, 1950, vor 200’000 entsetzten Zuschauern gegen Uruguay. So viele werden es im Stadion nicht sein. Es wurde redimensioniert und soll als neues Schmuckstück noch knapp 80’000 Zuschauern Platz bieten. Für Rios Einwohner ist die ehemalige Betonschüssel jetzt ein Stadion wie jedes andere, dem Mammon geopfert und für den Mammon gebaut – und doch werden sich alle Brasilianer so wunderbar schön in ihrer Sehnsucht nach dem WM-Titel und ihrer entsprechenden Anfeuerung verausgaben, wie es jede Fernsehproduktion lieben muss…

Und weil mit Fussball mindestens so viel Geld gemacht werden kann, wie in jedem veritablen Wirtschaftszweig üblich, wird in Brasilien nicht nur an jeder Schraube gedreht, um rechtzeitig bereit zu sein – und wir werden kommen und mitmachen und zusehen, und uns erneut wundern: Brasilien. Eine Macht in Südamerika – trotz aller Unzulänglichkeiten, Korruption und Vetternwirtschaft. Wie viel mehr wäre noch möglich? Was davon ist Charme, was nur Schminke über dem Elend? Wie wollten wir Europäer je das Lebensgefühl Südamerikas verstehen? Vielleicht ist deshalb auch noch nie eine Mannschaft aus Europa auf dem Kontinent Weltmeister geworden. Dabei soll es nicht nur nach den Brasilianern bleiben – es genügt für sie vollkommen, dass sich mit dem Maracanã die Bühne für das grosse Schauspiel europäischen Standards angeglichen hat.