Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.


Wissen und Zweifel

∞  9 Oktober 2014, 23:16

Mit dem Wissen wächst der Zweifel.
Johann Wolfgang von Goethe

Tatsächlich gibt es verschiedene Wege, mit seinem Wissen umzugehen. Wissen bedeutet Macht, heisst es ja auch. Es erleichtert Entscheidungen, mag man annehmen: Wer über die Faktenlage Bescheid weiss, kann ausgewogener Handeln und wird nicht überrascht.

Manches Wissen bedeutet auch gesellschaftlichen Status, und so genannte “Experten” können sich in diesem Wissen durchaus sonnen – und ihre Existenz darauf begründen.

Der Stand meines Wissens ist ebenso der Stand meines aktuellen Unwissens. Es ist ja nie so, dass wir eine Sache abschliessend überschauen können, und je scheinbar souveräner wir Bescheid wissen, um so mehr Raum entsteht für die Ahnung, dass rein gar nichts gesichert ist oder gesichert bleiben muss. Denn in letzter Konsequenz bedeutet grosses Wissen die Erkenntnis, dass die Fragen immer grösser sein werden als die Antworten.

Der Umgang mit unseren Zweifeln ist eine Frage der Weisheit, und aus ihr wächst die Demut, die uns vor Selbstüberschätzung schützt – und die Welt damit. Hoffentlich.

Ringelnatz - Dichter oder Reimer, so genau weiss es keiner.

∞  14 Oktober 2013, 21:31

An den Mann im Spiegel

Du bist ein krummer, dummer Hund!
Und hast es doch so gut gehabt,
Bist gar nicht reich und bist gesund,
Auch grösstenteils nicht unbegabt.

Du altes Schwein im Trüffelbeet,
Weisst du auch stets, wie gut’s dir geht?

Du, spring nicht über Schranken,
Die höher, als du selbst bist, sind.
Vergiss nie, täglich wie ein Kind
für alles tief zu danken.


Joachim Ringelnatz

Ich griff in letzter Zeit mehrmals nach ihm. In heimischen Regalen und in Kaufhausbibliotheken. Der Mann erzählt sein Leben in Reimen, hat keine Bange vor Trivialem und meist ist da in irgend jedem Gedicht für mich eine Zeilenfolge, die mich packt.

Reime sind irgendwie verschleiernd, eine unreife Verniedlichung, so scheint es uns modernen Orientierungslosen, denn das Leben ist ja doch nicht rund wie der Reim. Doch fände man die perfekte Form, und packte da all unseren Zerriss hinein, wie besonders könnte das klingen und sich gleichzeitig ins Bewusstsein graben?

Zum Gedicht vom Mann im Spiegel nur so viel an dieser Stelle noch von mir: Ich glaube, Ringelnatz beschreibt da, weshalb ich blogge. Schreibe. Wegen diesem Spiegel, vor dem ich immer wieder stehe, und der niemals blind werden soll.

Neuer Morgen, neue Welt

∞  28 Juli 2013, 18:13

Morgen für Morgen kommt man zur Welt.
Eugène Ionesco

Nachgedanken:

Wenn ich jeden neuen Tag wirklich als Neuanfang sehen könnte, dann würde mein Last nie zu gross. Es würde allerdings auch bedeuten, dass ich dem Schönen von gestern nicht nachhänge…

¬

Wenn ich keine Garantien brauche, für den neuen Tag, weil ich weiss, es ist nur einer unter allen weiteren neuen Tagen, dann könnte ich dazu auch noch auf sehr viel Gepäck verzichten…

¬

Wie oft habe ich eigentlich nicht auf den Sonnenuntergang geachtet? Dabei kann er ein Trost sein, der mich vor unruhigem Schlaf bewahrt.

¬

Es gibt den guten Rat, unter Eheleuten oder Familienmitgliedern keine Unstimmigkeit unausgesprochen mit ins Bett und in den Schlaf zu nehmen. Genau so sollte ich mit mir selbst verfahren und meinem inneren Umtrieb: Auf der Bettkante in eine virtuelle Schublade mit aller Unruhe, die Unzufriedenheit in mir aus dem Zimmer weisen und mich aufs behagliche Kissen freuen: Mit einem positiven Gedanken den Schlaf suchen.

Im Himmel beschlossene Verbindungen

∞  24 Juli 2013, 22:44

Manchmal frage ich mich, ob die Definitionen, mit der wir die Liebe zu charakterisieren versuchen, wohl viel unterschiedlicher sind, als wir uns bewusst sind. Es mag zwar sein, dass praktisch alle Menschen von den gleichen Liebesepen fasziniert sind – aber die Erfahrung, das eigene Gefühl, das Erleben – wie unterschiedlich mag es wohl sein?

Es tönt manchmal abgedroschen – und ist für Betroffene doch so sehr eine Katastrophe: “Er hat in seiner Kindheit nicht viel Liebe erfahren.” Mir scheint, dass dabei noch nicht mal die fehlende Ansprache für das Kind selbst, oder gar die Grobheit und Kälte ihm gegenüber das grösste Problem ist – es fehlt vor allem an Vor-Bildern. Liebe muss man auch vorgelebt bekommen. Wenn sich zwei Menschen für einander zu Brückenköpfen entwickeln, zu Türmen in der Brandung, wenn Verlass ist in Krisen und Güte in vielen kleinen Gesten des Alltags – dann stärkt sich ein Grundvertrauen.

Aber man kann nicht weitergeben, was man selbst nicht kennt und erfahren hat. Und viele Paare gehen eine Symbiose ein, die sie sich auch an den immer gleichen Ecken aufreiben lässt: Sie tun sich nicht gut, kommen aber nicht von einander los.

Und dann gibt es Verbindungen, die wunderbar harmonisch wirken, aber gar nichts vorspielen müssen: Gerade, dass es nicht ausgeschlossen ist, sich vorzustellen, dass auch dieses Paar unter sich Probleme haben kann, ist ein Teil der Ruhe, die sich überträgt: Man fühlt: Da kann nichts niemanden umhauen. Und dann kommt dieses Wort wieder: Hier geben sich Zwei Sicherheit. Sie ziehen keine prüfenden Plusminus-Bilanzen mehr, sie haben das hinter sich und wissen um die Anker, die des andern Wesen für einen bereit halten.

Es gibt einige Freundschaften,
die im Himmel beschlossen und
auf Erden vollzogen werden.

Matthias Claudius

Ich glaube, es gehört schlicht Glück dazu, auf den Menschen zu stossen, mit dem diese Verbindung möglich ist. Natürlich kann man sich so dumm anstellen, dieses Glück nicht zu sehen, aber DEN Menschen wirklich zu treffen, im richtigen Moment und im richtigen Alter – das ist Fügung.

Der beglückende Gedanke, dass diese Verbindung im Himmel beschlossen wurde, liegt sehr nahe.

Und der Rest, glaube ich, ist dann die edle Aufgabe, mit diesem Glück oder ein bisschen weniger Glück gut und liebevoll umzugehen. Die Übereinstimmungen hervorheben, das Unterschiedliche aushalten, ihm Raum geben, nachsehen können, ansehen gar…

Und: Liebe leben, Liebe erfahren, Liebe schenken, das ist Begegnung.
Das gilt nur für diese eine einzigartige Form einer Beziehung.

Sag's einfach

∞  29 April 2013, 07:35

SMS zum Tag:

Die wirksamsten Sätze sind ganz einfache, die ganz bescheiden daher kommen. Man kann sich einfach nicht an ihnen vorbei denken.

Komisch. “Es kommt wie es kommen muss” ist ein Satz, den ich einfach mit Fatalismus gleichsetzen und weit von mir weisen könnte, so banal ist er. Er gehört aber zu den positivsten und mich immer wieder am meisten aufrüttelnden Sätzen, und das hat wohl ganz stark mit der Person zu tun, die den Satz aussprach. Ein junges Mädchen in einer Casting Show, nach ihren Träumen und weiteren Plänen nach dem Erfolg befragt, und dabei schaute sie den Reporter mit ganz grossen braunen Augen an. Fabienne Louves war es, und sie sagte es so, wie sie es meinte: Was will ich mir Gedanken machen, über Dinge, die ich nicht beeinflussen kann? Und gleichzeitig war da ein Vertrauen heraus zu hören, dass es das Leben schon weiter gut meinen würde – und wohl eine Erfahrung, die auch um weniger tolle Momente weiss, die auch nicht umbringen konnten. Die Bereitschaft, mit dem Leben umgehen und dafür arbeiten zu wollen, Schritt um Schritt zu nehmen, passte für mich zu ihrer Ausstrahlung.

Und schon bin ich mitten in den eigenen Gedanken, in meiner Interpretation. Aber es stimmt: Die ganz einfachen Sätze sind oft die richtigen und jene, die wir wirlich gebrauchen können. Sie wirken banal, sind aber genau das, was gerade jetzt, im Moment zählt und zu dem man auch ja sagen können muss, vielleicht nicht als finale Erkenntnis, aber als Grundeinstellung, die akzeptiert, dass der Stier auf der Matte steht und es verschieden heraus kommen kann, wennn man ihn an den Hörnern packen will.

Menschen, die sich an einfache Rezepte halten können, sind deswegen nicht oberflächlich. Im Gegenteil. Sie haben einen glasklaren Bezug zur Substanz der eigenen Wahrheit und vermögen oft eine Haltung an den Tag zu legen, die an Verlässlichkeit nicht zu überbieten ist. Deswegen sage ich Menschen, die sich zum Beispiel scheuen, mir zu schreiben, gerne und oft:

Was glaubst Du, wie gerne ich mehr Talent hätte, um mich einfach ausdrücken zu können. So, und wenn Sie nun noch bedenken, dass der Satz dann auch noch eine wesentlich andere Nuance bekommt, wenn Sie darin statt “einfach” erst “ausdrücken” stärker betonen, dann wird deutlich, wie viel Genialität, Interpretationsspielraum und Sinngebung in ganz einfachen Aussagen liegen kann.



SMS zum Tag: Sehnen oder leben?

∞  8 April 2013, 07:00

Meistens habe ich die Wahl:
Das Vorhandene vertiefen – oder das Fehlende überhöhen?

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Ich kann wohl fragen, wen ich will: Jeder findet einen Grund, nicht wirklich glücklich zu sein. Es lässt sich bestimmt objektiv feststellen, dass zum absoluten Glück etwas fehlt. Zumal dieses Glück nicht beständig ist. Also denkt man sich das zu, und je mehr dies geschieht, um so fixer wird der Verlust, der eigentlich nichts anderes ist als ein Glück weniger in einer Fülle von Dingen, mit denen man sich sehr wohl arrangieren kann:

Der Grad unserer Zufriedenheit ist das Ergebnis unserer Sicht auf die Welt. So, wie wir die Dinge sehen, sie annehmen können, wie wir bestehende Grenzen als Orientierung sehen und nicht als Gefängnis, wie wir Mangel mit Anspruchslosigkeit die Spitze brechen können, wie uns Dinge auch zufallen können, wenn wir sie nicht erzwingen wollen: So, wie wir unsere Gegenwart annehmen und positiv besetzen können, so wenig müssen wir die Zukunft fürchten. Sie wird uns bringen, was fehlt, oder aufzeigen, dass es ohne geht.

Ich kann mich nicht aus meiner Enge wegdenken. Aber ich kann ihr auf den Grund gehen und meine eigene Enge aufbrechen. Hier. Und nicht in erdachten Welten und Umständen. Statt einen Palast zu erdenken, gewinne ich die Ruhe, einen Liegestuhl nicht nur aufzustellen, sondern mich auch hinein zu legen. So zum Anfang.



Ich halte still?

∞  17 November 2012, 19:45

Ich halte still. Du nicht.

Buddha zu Angulimala.


Wie oft fliehen wir vor der Stille? Oder auch nur vor dem ruhigen Nachdenken?
Halten wir eine Stille im Raum aus? Zwischen Menschen? Wie schnell rasen unsere Gedanken, wenn wir uns unbehaglich fühlen? Wo wünschen wir uns hin? Wie lange und wie gut können wir uns konzentrieren? Was ist Freizeit für uns?
Ist da mehr, bleibt da mehr als Zerstreuung?

Lebe! Damit setzen wir das Abenteuer gleich, die Unternehmung, die Aktivität, den Sport, die Reise. Ausgleich des Alltags und unserer Entfremdungen, die wir darin ausmachen. Wir fügen unserem Leben Risikoerfahrungen am Bungee-Seil zu – aber im Grunde rennen wir ständig vor dem Risiiko des Lebens davon, weil es Schmerzen verspricht – und schon bereitet hat.
Wir projizieren, verleugnen, verstecken.
Wir tun alles, um nicht verletzt zu werden oder unsere Verletzungen zu vertuschen. Dafür, glauben wir, dürfen wir niemals still stehen.

Wir beteuben nicht nur den Schmerz, sondern auch die Furcht davor.

Wir halten niemals still. Bis wir gestoppt werden.

Bleib ruhig

∞  13 August 2012, 17:07

Bleib ruhig:
In hundert Jahren ist alles vorbei.
Ralph Waldo Emerson



Das Wort Gelassenheit – ich brauche es so oft, weil ich das, was sie auszeichnet um so mehr anstrebe, je heftiger ich meine Ruhe vermissen lasse.

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Ruhig soll ich also bleiben. Das Zitat nennt gar keinen Anlass, der diese Ruhe gefährdet. Denn es will sagen: Den gibt es nicht.
Es gibt schlicht kein Ereignis, dem man diesen Satz nicht entgegen setzen könnte.

Ich könnte auch sagen: In fünfzig Jahren ist alles vorbei. Mit höchster Wahrscheinlichkeit. Die absurd lange Zeit, die das einschliesst, ist im nächsten Moment die mir viel zu kurz erscheinende Restlebenszeit, die mir bleibt. Es liegt so viel bei mir selbst. Selbst wenn ich der Meinung wäre, es liesse sich nichts wirklich selbst beeinflussen, so bliebe doch die Frage:
Wie gehe ich damit um?
Was schaffe ich noch, was habe ich verpasst, was bleibt mir noch, was erwarte ich von mir,
was muss, was darf, was fehlt?
Ob ich zufrieden mit mir bin, mit meinem Leben, meinem Schicksal, meinen Zufällen – wovon hängt das ab? Am Ende von Anderen – von Stärkeren oder Schwächeren? Von Ihnen?

Unsere innere Aufregung ist so häufig Unruhe für nichts. Wir können und sollen durchaus über unsere fehlende Wichtigkeit nachdenken, über Aufgaben und Sinnstiftungen. Unwichtig ist in jedem Fall aber die Sorge, die Angst, die Wut, der Zorn. Nichts daran lässt die hundert Jahre kürzer werden, nur leidvoller.

Viele meiner Freunde sind noch ein Stück älter wie ich. Nichts geniesse ich so sehr, wie wenn ich staunend feststelle, dass ihre Ruhe viel grösser als die meine ist. Ihre hundert Jahre sind kürzer. Und es lohnt sich nicht, seine Zeit zu vergeuden. Nichts nachzurennen, auch wenn der unbekannte Horizont näher rückt, hat etwas Abgeklärtes, Souveränes an sich. Es ist eine Ahnung von Frieden, die mich ansteckt, runter holt und ruhig atmen lässt. In hundert Jahren ist alles vorbei. Und das ist in Ordnung, wie es immer in Ordnung war.

Womit ich bereit bin für meinen nächsten Moment.



Nach dem Erfolg

∞  18 Juli 2012, 16:48

Es gibt so Momente, in denen ich mitten in einem gelesenen Text einfach innehalten muss: Wenn ich auf Sätze stosse, die einen Fensterladen aufreissen: Ich schaue durch den Satz hindurch und sage:

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Boah, genau das ist es. Und meist sind das auch noch ganz einfache Sätze, als wollte die Wahrheit auch in der einfachen Form, in der sie daher kommt, offenlegen, wie einfach alles ist, wie klar. Kompliziert sind nur unsere Versuche, da raus zu kommen – oder umgekehrt etwas anzufangen, mit dieser Wahrheit.

Jetzt fehlt, wie bei jedem grossen Erfolg, nur noch eines: eine Fortsetzung.
[Tina Hildebrandt in einem Artikel über Gerhard Schröder in der Zeit No. 29/2012]

Genau das ist es! Wir Menschen fragen immer nach dem Danach. Aber was kommt nach dem Gipfel? Das ist das Problem. Es ist, irgendwie, nie genug. Das was wegbricht – wir können es nicht gehen lassen, nicht wahr?

Dabei hätte ich da einen Ansatz: Wie wäre es, wenn man dem, was man tut, das mögliche Scheitern zubilligen könnte. Ich meine, wirklich: Was man versucht, besitzt seinen Wert im Prozess, und dieser Wert ist nicht abhängig von äusserer Anerkennung, oder von einem messbaren Erfolg. Nach dem Bergsteigen mit Wandern weiter machen. Aber wer kann das schon?

Mit nichts ist schwieriger umzugehen als mit dem grossen Erfolg. Er verändert uns Menschen mehr als jede Mühsal es könnte. Das mag für jene, die gerade bis zur Unterlippenkante in Problemen stecken, wie Hohn klingen. Sie wären noch so gerne in so einer anderen Haut. Eine solche Veränderung aber tatsächlich mit zu machen, kann auch zu einer Hölle werden. Vielleicht wird es dies zuerst für ein bestimmtes Umfeld des Erfolgreichen, aber am Ende ist diese Person dann allein mit sich, also mit jemandem, den er selbst lieber nicht kennen würde, dem aber viele neue Freunde hofieren. Ein grosser Erfolg verändert alles. Auch, weil er nach ganz neuen Massstäben zudeckt und offenlegt, blenden lässt und auch verstecken. Alles ist so leicht – bis man die Leere dahinter nicht mehr verscheuchen kann.



Die Sache mit der finanziellen Unabhängigkeit

∞  26 Juni 2012, 14:24

Es ist ja gut und recht, immer mal wieder in Aphorismen zu stöbern, aber manchmal ist es schon unfassbar, welchen Sturm an Gedanken ein einziger, oder auch zwei Sätze auslösen können:

Das Geld, das man besitzt, ist das Mittel zur Freiheit, dasjenige, dem man nachjagt, das Mittel zur Knechtschaft.
Jean-Jacques Rousseau


Da frage ich mich, wie denn bei uns ein Mensch glücklich werden soll, der nach den Regeln der Wirtschaft lebt? Sie will nämlich ständiges Wachstum. Nur so ist wachsender Wohlstand möglich. Bei entsprechender Schuldenlast, wie wir sie “aktuell” haben, ja immer mehr anhäufen, ist diese Jagd nur schon nötig, um Besitzstand zu wahren. Wie also ist es um den Besitzenden bestellt, dessen Geld in Gefahr gerät, sich verbraucht, entwertet? Wie sehr verhindert Verlustangst diese sagenhafte Freiheit?

Wie besitzt umgekehrt jemand Geld, der es nur hat, weil er ihm zuvor nachgejagt ist? Hat ein solcher Mensch je die Möglichkeit, die Jagd aufzugeben?

Geld zu haben, macht nicht unabhängig. Dafür ist eine Einstellung nötig, eine Form von Selbstvertrauen, die sich nicht über einen Besitzstand definiert: Unabhängigkeit, Freiheit ist, wird sie materiell definiert, ein Mythos, der sich jederzeit zerschmettern lässt. Unabhängig muss man im Kopf werden – und dieser Prozess ist niemals wirklich abgeschlossen. Denn Zukunftsängste können plötzlich unvermittelt aufkommen.

Hätte mir jemand vor Jahren prophezeit, ich würde so oft darüber nachdenken, ob es besser gewesen wäre, den beruflichen Weg mit Vollgas weiter zu gehen, so hätte ich ihn ausgelacht. Unmöglich. Nun, die Welt ist eine andere geworden, die Unsicherheiten in unser aller Bewusstsein wachsen sich manchmal zu quälenden gedanklichen Geschwüren aus. Doch genau solche Situationen sind Indikatoren, welche Menschen mit etwas Zeit für sich selbst den Spiegel vorhalten:

Sag mal, Freund, wie ist es um Deine Unabhängigkeit wirklich bestellt? Hast Du sie Dir gekauft und befürchtest Du nun, dass Dir das Leben die Garantie auf den Kauf aufkündigen könnte? Unzähligen Menschen ergeht es so im eigentlich wohlverdienten Ruhestand. Ich habe immer gesagt, ich würde mir mit meinem Lebensmodell Zeit kaufen wollen. Zeit statt Lohn, Zeit als Lohn. Mir ist Zeit so lieb geworden, dass ich manche Abstriche an meinen Lebensumständen machen würde, nur um diese Herausforderung nicht abtreten zu müssen: Zeit gestalten zu können.

Ich bin bei dieser Zeitgestaltung gerade in den letzten Monaten eher mässig erfolgreich gewesen – aber genau darin liegt der Wert der Selbstfindung: Mein Erstaunen ist gross, wie leichtfertig man sich immer wieder selbst seine Zeit vollschüttet mit selbst definierten Notwendigkeiten, die objektiv gesehen völlig unnötig bleiben würden, könnte man nur die ursprünglichen Absichten weiter erinnern und aufrecht erhalten. Und wenn dieser Beschäftigung die Legitimation des Geldverdienens fehlt, dann kann man sich in seiner belanglosen Zeitverbrennung viel weniger in die Tasche lügen.

Auf diesem harten Weg komme ich persönlich am ehesten zu ein bisschen mehr Unabhängigkeit – und damit innerer Freiheit, die – eben – gar keine materiellen Bedingungen braucht, um Bestand zu haben. DAS ist Freiheit. Ist sie mal errungen, muss man ihren Verlust auch nicht fürchten. Sie lässt sich kaum stehlen, ist resistent gegen Inflation und trägt einen Stempel: “Persönlich, nicht übertragbar.”


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