Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Vietnam: Hue - Dong Ha / DMZ (Demilitarized Zone) - Dong Hoi

∞  13 September 2009, 19:45

Erlebt am 7. April 2009


[ Bilder im Album ab hier ]
[Landkarte: Rund um Quang Tri ]


Wir werden heute die DMZ (Demilitarized Zone) überqueren, somit durch eines der am heftigsten umkämpften Gebiete fahren und uns mit dem Krieg auseinandersetzen müssen. Von 1954 bis 1975 bildete der Fluss Ben Hai die Grenze zwischen Nord- und Südvietnam. Er verläuft mehr oder weniger entlang des berüchtigten 17. Breitengrades; fünf km nördlich und südlich erstreckte sich die ehemalige entmilitarisierte Zone.

D erzählt uns etwas darüber, dh., er liest vor, was er aufgeschrieben hat. Viele Worte betont er falsch, dazu kommen die Fahrgeräusche, und so ist es recht mühsam, ihm zuzuhören. Ich klinke mich aus, als er zum wiederholten Male und ausschliesslich von der Nordvietnamesischen Armee und dem Vietcong als der „Befreiungsarmee“ spricht und Saigon konstant Ho Chi Minh City nennt, was kein Mensch tut, auch im Norden nicht. Thinky, der Glückliche, ist eingeschlafen.

Wir erreichen Quang Tri, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Sie war einst Standort einer mächtigen Zitadelle und wurde so schwer bombardiert, dass kaum noch ein Originalgebäude stehen blieb. Doch von wem?

Tatsache ist, dass die Orte dieser Provinz mehrmals von den Nordvietnamesen/Vietcong erobert, und von den Südvietnamesen/Amerikanern wieder zurückerobert wurden. Inzwischen ist die Stadt wieder aufgebaut, nur eine ausgebombte Kirche und Schule hat man stehen lassen; letztere zeigt uns D.




Natürlich sind das die Amis gewesen. Auf meine Frage, wieso man ausgerechnet diese zwei Gebäude hat stehen lassen und wie es denn möglich sein soll, dass ein ganzer Ort zerstört wird, und ausgerechnet Kirche und Schule verschont bleiben sollen, weiss D auch keine Antwort.

Das Eingangstor der Zitadelle wurde neu errichtet, dahinter befindet sich heute ein Museum




und eine Gedenkstätte für die Gefallenen – angeblich aller.




Wieso ist denn neben der Glocke ein Schaukasten mit einer Vietcong-Ausrüstung,




um zu zeigen, mit wie wenig diese Männer in den Kampf zogen?

Es ist eine Gruppe Veteranen anwesend, die einen Kranz niederlegen. Das ist sehr eindrücklich.

Ich möchte gerne all der Gefallenen gedenken, denn jeder war einer zuviel, ganz egal, auf welcher Seite er stand. In diesem Sinn stecke ich meine Räucherstäbchen in den Sand.




Im Museum sieht man nachgestellte Szenen aus dem Alltag der “Befreiungsarmee”, zB. eines Militärbüros : einer mit dick bandagiertem Kopf sitzt noch heroisch an der Schreibmaschine… Neben einigen Relikten gibt es Fotos, darunter eines von einem waffenstarrenden Jungen, lachend. Bildunterschrift: XY, 14 Jahre alt, kämpfte drei Monate lang unaufhörlich in der alten Zitadelle. Für D ist er einfach nur ein Held.

Ich weiss nicht, ob ich so viel essen kann, wie ich kotzen möchte.

Halt auf dem Pannenstreifen: D weiss in einem Gebüsch einen rostigen US-Panzer; ich frage ihn, ob es noch andere gäbe? Nein, sie wurden alle „von den Leuten hier“ weggeräumt.

Auf der anderen Strassenseite ist ein Soldatenfriedhof. Den will ich sehen. Auf dem Mahnmal am Eingang steht “to quoc ghi cong”: lasst uns vergessen. Die weitaus meisten Gräber sind namenlos, alle tragen die Aufschrift „liet si“, Märtyrer;




einige stammen noch aus der französischen Kolonialzeit.

Es gibt in dieser Provinz über 70 solcher Friedhöfe, mit über 70’000 Gräbern.




Auch die Amerikaner verzeichneten in diesem Gebiet die weitaus meisten Verluste, aber ihre Gefallenen sind natürlich in der Heimat beigesetzt.

Beim Soldatendenkmal von Doc Mieu interessieren uns vor allem die wunderschönen roten Frangipani-Bäume davor, auch wenn D dies nicht versteht.




Jetzt sind wir am Südufer des Ben Hai Flusses. Hier steht ein riesiges Monument: stilisierte Palmwedel – als Symbol für den Süden – und davor eine Frau und ein Kind, gegen Norden blickend. „Sie erwarten ihre Retter und Befreier“ erklärt D. Und meint das auch so.




Und was ist mit all den Tausenden, die sie nicht als solche sahen, vor ihnen die Flucht ergriffen und dabei erschossen wurden? Oder mit den 1,6 Mio. Boatpeople?

Ganz sicher befreit wurden die Menschen von ihrem Eigentum, denn mit dem Einmarsch der Truppen setzten auch gleich die Enteignungen ein.

In D’s Beliebtheitsskala rutsche ich in die Nähe der Zahnwurzelbehandlung.

Ueber die alte Brücke (daneben steht eine neue) überqueren wir den Fluss. D stürmt voraus, als gälte es etwas zu erobern. Dieser geschichtsträchtige Ort lässt mich nicht kalt und vorsichtig versuche ich, mich für die Schwingungen zu öffnen. Aber da ist nichts Bedrohliches, da hat alles seinen Frieden gefunden, den ich schon zuvor auf dem Friedhof erspürte. An der Nordseite steht ein Triumph-Bogen, mit einem Propagandaspruch, unter dem es hindurchgeht,




etwas weiter weg ist ein Fahnenturm mit der vietnamesischen Flagge.

Im Museum steht eine riesige Statue von Ho Chi Minh, auch einige Landkarten, Waffen, oder was davon übrig blieb, und Fotos mit lachenden Menschen, die inmitten von Trümmern die Stellung halten oder Kriegsgerät durch den Dschungel schleppen, als wären sie an einer Pfadfinderübung. D betrachtet jedes einzelne eingehend. Thinky macht wieder ein paar kritische Bemerkungen, auch zu dem „statistischen Material“; die kann und will D nicht verstehen, für ihn ist das, was hier steht, die absolute Wahrheit, die zu interpretieren schon ein Frevel ist. Schliesslich ist Onkel Ho (so wird Ho Chi Minh von seinen Anhängern genannt) sein Gott, – sage ich. Er ist Atheist – sagt er; und wollte gestern für gutes Wetter beten.

Ich werde hier in die total falsche Rolle gedrängt: Nein, ich bin nicht für die Amis, ganz und gar nicht, und wer mich kennt, weiss, wie sehr “nicht”. Es kommt nicht von Ungefähr, dass ich die USA nie besuchte. Was sie in Indochina angerichtet haben, dass sie überhaupt gekommen sind, ist eine Schande, ebenso, dass sie sich bis heute nie dafür entschuldigt haben, geschweige denn die vietnamesichen Opfer ihrer Chemieeinsätze entschädigten (die GI’s erhielten eine Abfindung, ebenso einige Alliierte).

Aber ich bin auch nicht für eine Armee, die Kinder in den Krieg schickt, Zwangsrekrutierungen vornimmt, Tempel und Pagoden gezielt sprengt (das haben sie aber relativ schnell wieder eingestellt und den Amerikanern in die Schuhe geschoben, als sie merkten, dass das Volk dies nicht goutierte; heute herrscht absolute Glaubensfreiheit), Unterschlupf in Dörfern sucht, damit das Leben der Zivilisten aufs Spiel setzt und ein System an die Macht bringt, das hauptsächlich für sich selber sorgt. Wenn das vietnamesische Volk vorwärts kommt, dann nicht wegen, sondern trotz des Staates.

Für was ich bin, ist eine ausgewogene, objektive Darstellung der Dinge. Auf Propaganda reagiere ich nun mal allergisch, zumal sie hier nicht einmal im Entferntesten die Meinung des Grossteils des vietnamesischen Volkes wiedergibt.


Zahlen des Irrsinns


Es sind mehr als dreissig Jahre vergangen, seit der Vietnamkrieg endlich ein Ende fand. Entlang unseres Weges haben wir zahlreiche Zeichen dafür wahr genommen, wie ernst es den Vietnamesen damit ist, in Frieden zu leben – und dafür auch Versöhnungsarbeit zu leisten. Doch je mehr wir gen Norden kommen, desto augenfälliger werden die Unterschiede zwischen dem Süden und Zentralvietnam, und das dürfte noch zunehmen, je weiter wir reisen. Wie tief zweigeteilt das Land unter der Oberfläche nach wie vor sein dürfte, können wir nur vermuten, aber wir haben nicht immer ein gutes Gefühl. Die Aufgabe, die sich diesem Volk stellt, ist ja auch unvorstellbar:
3 Millionen Vietnamesen sind im Vietnamkrieg umgekommen und vier Millionen wurden verwundet. Dem stehen 56’000 tote US-Soldaten gegenüber. Über Vietnam sind zwei Mal mehr Bomben abgeworfen worden als im ganzen zweiten Weltkrieg über ganz Asien UND Europa!
Was in den Dimensionen des ganzen Krieges schon den blanken Irrsinn verrät, spiegelt sich auch in der Bilanz des Kampfes um die Zitadelle von Quan Tri: 26’000 Soldaten wurden getötet. Und 71 gefangen genommen.
Haben es die Verlierer einfacher, zu vergessen? Es sind die Sieger unter den Helden, dazu ernannt von einem Staatsapparat, der seine Legitimation auch und gerade aus dieser Geschichte zieht, die überall Denkmäler erhalten. In der Gegenwart anzukommen, Herausforderungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wettbewerbs anzunehmen, ist nicht unbedingt einfacher, wenn man die politische Moral als Schutzschild gegen jede Kritik ins Feld führt. Und diese Moral beugt mit eigener Optik neues Unrecht getreu einer Ideologie: Man zeigt uns eine zerbombte Schule, die als einziges Gebäude nicht wieder aufgebaut wurde, als Mahnmal. Derweil begegnen uns Menschen mit intellektuellen Fähigkeiten, potentielle Think Tanks des modernen Vietnam, die fünfzehn Jahre Häuserwände anstrichen, weil man ihnen die Schule, die Bildung, das Studium verwehrte.
Nicht nur Bomben sind Fratzen des Irrsinns. Ideologische Barrieren verursachen eine Art Bombenkrater in Lebenslinien, die gebrochen werden, mit keinem Recht, das sich Menschen im Umgang mit einander nehmen könnten und dürften.
Wer Leid erfährt, wird Leid säen. Immer wieder.


Als 1966 die Amerikaner ihre Bombenangriffe auf den nördlichen Teil der DMZ intensivierten, begannen die Bewohner der Bezirkes Vinh Linh ein Tunnelsystem anzulegen. Innert zwei Jahren gruben sie 50 Tunnel in den roten Lateritboden. Diese dienten zwar auch der Nordvietnamesischen Armee/Vietcong , waren aber hauptsächlich dem Schutz der Zivilbevölkerung zugedacht.

Wir sind jetzt in Vinh Moc, einem kleinen Küstendorf. 250 Menschen gruben hier in 18 Monaten fünf Tunnel mit einer Gesamtlänge von 2,8 km,




in denen alle 600 Dorfbewohner zwischen 1967-69 über verschiedene Zeiträume lebten. Danach siedelte etwa die Hälfte in eine sicherere Provinz um, der Rest blieb bis 1972, danach bauten sie ihre Häuser wieder auf.

Einen Teil dieser Tunnel, die später miteinander verbunden wurden, kann man im Originalzustand besichtigen, (das war auch das Einzige, was ich aus der Kriegszeit wirklich sehen wollte und gebucht wurde) und erhält zuvor eine kurze Einführung im Museum durch einen lokalen Führer. Auf diesen müssen wir noch warten. Da ist ein taubstummer Mann, der mich am Aermel zupft, mir etwas zeigen möchte. Er deutet auf ein grosses Foto mit Babykörben und zeigt auf einen, dann auf sich. Ich lese die Legende: insgesamt 17 Kinder sind unterirdisch zur Welt gekommen; eines davon muss er gewesen sein. Ich bedeute ihm, dass ich verstanden habe, was ihn sehr freut und zu weiteren „Erklärungen“ anspornt. Er merkt sofort, ob ich richtig verstanden habe; wenn nicht, versucht er es mit anderen Gesten, deutet genauer auf die Bilder. Ich versuche, auf die gleiche Weise „nachzufragen“. Dann kommt der Guide, der leider nur Vietnamesisch spricht, sodass D übersetzen muss. Ich erfahre eigentlich nur, dass ich den Taubstummen richtig verstanden habe. Dann geht es in die Tiefe. Es ist relativ eng, die Höhe variiert zwischen 1,6-1,9m, eine Taschenlampe ist hilfreich, obschon der Generator auch heute noch Licht erzeugt.




Ich bin froh, sind wir nur zu Viert, mit vielen Leuten hätte ich wohl Platzangst. Wir sind jetzt 12 m unter der Erde. Da sind links und rechts des Ganges kleine Kämmerchen, sog. Familienzimmer, gedacht für vier Personen.




Wir steigen noch eine Etage tiefer, auf 15 m. Da sind Süsswasserbrunnen, ein WC, dh. ein Loch, eine Waschgelegenheit, ein Entbindungsraum/Sanitätszimmer




und weitere Kämmerchen, ab und zu Ausgänge. Die gute Belüftung erstaunt mich. Die tiefsten Gänge befinden sich auf 23 m, da sehen wir nur die Treppe runter. Wenn ich mir vorstelle, dass die Leute hier mehr Stunden am Tag verbrachten als oberirdisch, und das über Jahre hinweg, schaudert es mich. Es ist sehr eindrücklich, aber auch unheimlich, und ich bin froh, dass wir nach zwanzig Minuten wieder draussen sind.




Es ist knapp vor 15:00, höchste Zeit für unsere Lunchpakete, die D am Morgen organisiert hat. Er selber hat keines, isst aus unseren mit, es ist auch dann noch zuviel, den Rest geben wir ihm mit für seine heutige Rückfahrt.

Wir fahren weiter Richtung Dong Hoi; da sagt D unvermittelt: „1972 fiel mein Vater, da war ich neun Jahre alt.“ Und dann, nach einer kurzen Pause: „Ich erinnere mich nicht mehr an das Gesicht meines Vaters.“ Dann schaut er angestrengt in seine Unterlagen.

Das ist die einzige vernünftige Erklärung, die er in diesen zwei Tagen abgegeben hat: die Erklärung für seine Wut.

Dieses ganze Gebiet, das einmal eine karge Bombenkraterlandschaft mit von Chemikalien und Blut getränkter Erde war, ist jetzt ein Reisfeld. Die entlaubten Wälder auf den Hügeln wurden neu aufgeforstet, im Ben Hai Fluss wird gefischt, aber für D ist immer noch Krieg.

Wir kommen an in Dong Hoi, der Hauptstadt der Provinz Quang Binh, die zu den ärmsten des Landes zählt.

Bevor wir ins Hotel fahren, halten wir an der Strandpromenade und sehen zu, wie Fischer ihre Senknetze ins Wasser lassen; dh. Thinky und ich tun das. Der Stopp gilt eigentlich einem weiteren Denkmal, diesmal für eine Heldin.




Im Hotel machen wir einen Spaziergang dem Strand entlang und in der ausgedehnten Hotelanlage um die Köpfe auszulüften. Auch hier ist eindeutig Nachsaison, kein Mensch ist zu sehen. Im Speisesaal sind wir ebenfalls die Einzigen. Es gibt Ravioli, mit Spaghetti dekoriert, und das schmeckt. Davon überzeugt sich der Koch persönlich. Die Dessert-Teller hat er liebevoll mit aufgespritzten Schokolade-Schmetterlingen verziert.

Wir trinken noch etwas Hochprozentiges, das darf nicht nur, das muss heute sein.