Reflexionen

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Vietnam: Hanoi - Stadtbesichtigung

∞  11 Oktober 2009, 14:55

Erlebt am 10. April 2009


[ Bilder des Tages im Album ]


Ich habe geschlafen wie ein Stein. Wir frühstücken im elften Stock mit Sicht über die Altstadt. Ich habe extra ein Hotel – das Anise – in diesem Viertel gewählt, damit wir uns da zu Fuss umschauen können. Ich hätte nicht erwartet, dass wir ein so schönes Zimmer bekommen, zumal das das günstigste Hotel im Kuoni-Katalog war. Das Preis- Leistungsverhältnis ist hier geradezu optimal.

Die Stadtrundfahrt beginnt erst um 09:00. Die habe ich absichtlich auf heute Freitag gelegt, denn am Freitag und am Montag ist das Ho Chi Minh Mausoleum geschlossen. Personenkult und Gammelfleisch gehen bei mir nun mal gar nicht, und ich sehe mich auch ausser Stande, an einen Massenmörder in der geforderten “angemessenen Haltung” vorbeizugehen, dh., schon, aber bestimmt nicht im Sinne der Verordnung. Da ich im Vorfeld nicht wusste, inwieweit dieser Besuch „Pflicht“ ist, ging ich lieber auf Nummer sicher, ich will ja auch niemanden in Schwierigkeiten bringen.

J hat die Nacht zu Hause verbracht, es geht ihm heute etwas besser; „zu 50% wieder hergestellt“ bezeichnet er seinen Zustand.

Jetzt stehen wir also vor dem Ho Chi Minh-Mausoleum




das an dem Ort steht, wo er am 2.9.1945 die Demokratische Republik Vietnam ausgerufen hatte. Es unterscheidet sich nicht gross von den Mausoleen Lenins und Maos.

Unweit befindet sich die bereits von den Franzosen während der Kolonialzeit angelegte Verwaltungsstadt, inklusive dem Präsidentenpalast,




allesamt sehr schöne, vornehme Gebäude in französischem Stil und hübschem Gelb, in parkähnlicher Umgebung. Zu sehen ist ebenfalls das Nebengebäude, in dem sich Hoh Chi Minh zuerst einquartierte, bevor er das hölzerne Stelzenhaus, das an einem Weiher steht, errichten liess.




Eine gewisse Bescheidenheit ist ihm dabei nicht abzusprechen, der einzige sichtbare Luxus besteht im direkten Zugang zu einem Bunker. Das Haus ist zu besichtigen, der heutige Präsident lebt wieder im Palast.

In Gehdistanz ist auch die Einpfeilerpagode Mot Cot. Das einzigartige, vollständig aus Holz bestehende Gebäude war fast 1000 Jahre alt, als es 1954 von den Franzosen zerstört wurde. Beim Wiederaufbau wurde die Holzsäule durch eine aus Beton ersetzt. Die Pagode steht in einem Teich und weist die Form einer Lotosblüte auf.




Daneben gibt es Stupas, kleine Schreine und einen schönen Tempel. Es handelt sich um einen, wie er typischerweise im Delta des Roten Flusses vorkommt, und unterscheidet sich beträchtlich von den ebenfalls buddhistischen Tempeln im Süden. Der „chinesische“ Einfluss ist hier bedeutend stärker: es gibt einen Nebenaltar zur Ahnenverehrung




und neben Buddha stehen auch der Jadekaiser und seine Mandarine prominent auf dem Hauptaltar.




Auf den ersten Blick würde man eigentlich eher meinen, es handle sich um einen taoistischen Tempel. Durch torartige Holzschnitzereien wird der Raum unterteilt, was ihm mehr Tiefe gibt. Im Uhrzeigersinn geht man um den Hauptaltar, weshalb der Herr des Todes links steht,




und der Herr des Lebens, bei dem man wieder herauskommt, rechts.




Viele Leute sind da, die Opfergaben bringen, auch zwei Frauen vom Stamm der Gao, erkennbar an ihren bunten Kopftüchern.




Mit dem Auto fahren wir zum Literaturtempel Van Mieu, den König Ly Thanh 1070 Konfuzius weihte.




Sechs Jahre später wurde daraus ein Zentrum für konfuzianische Philosophie und Moral, das in erster Linie den Söhnen von Mandarinen und anderen hohen Beamten, sowie Adeligen vorbehalten war.




So gibt es hier auch 82 Stelen, die auf steinern Schildkröten ruhen; darauf eingemeisselt sind die Prüfungsresultate und Namen der erfolgreichen Kandidaten, die sich zwischen 1449 und 1779 um einen Posten im kaiserlichen Zivildienst beworben haben.




Die ganze Anlage strahlt eine spürbare Harmonie aus und macht sie zu einem Ort, der zum Verweilen einlädt.




Der eigentliche Tempel wirkt denn auch sehr „aufgeräumt“. Konfuzius sitzt in der Mitte des Altars, von Mandarinen umgeben,




mit seiner typischen Handhaltung, die das Yin und Yang symbolisiert.




Hier gibt es nichts, was meine Sinne reizt, aber unendlich viel, was mich in mir selbst ruhen lässt.

Beim Fotografieren bleibt Thinky an einem Strauch hängen und hat jetzt einen 30cm langen Schranz im Hosenbein.

So geht es weiter zum Den Quan Thanh Tempel, der zwischen 1011 und 1225 errichtet wurde, und dem Schutzgeist des Nordens




geweiht ist. Besonders sehenswert sind hier die aus Perlmutter angefertigten Schriftzeichen, die als Intarsien in Tafeln eingelegt sind.




Am Hoan Kiem See, der am Rand der Altstadt liegt, lassen wir uns absetzen. Der kleine See ist ein Ort der Ruhe, eingebettet in einen Park. Auf einer kleinen Insel steht der Tempel des Jadeberges, zu dem eine pittoreske rote Brücke führt, die The Huc.




Den Tempel mögen wir nicht besichtigen, wir gehen ganz gemütlich um den See herum, setzen uns auf eine der vielen Bänke, mit Blick auf das Wahrzeichen Hanois: den dreistöckigen Schildkrötenturm, der ganz vom Wasser umgeben ist, und durch seine Schmucklosigkeit besticht.




Ein grosses Sorry


Hanoi’s Sehenswürdigkeiten machen Eindruck – und sie sind vielfältig. Noch einmal kann man die ganze Bandbreite von Kultur, Ruhe vermittelnden Gärten hektischem, SEHR lebendigem Grossstadtleben auf sich wirken lassen. Aber um die Mittagszeit bin ich restlos erledigt und übersättigt, nicht mehr aufnahmefähig. Ich hätte die Kamera gerne ganz weit weg gewünscht, und jeder weitere Tempel hätte mich in keiner Weise mehr locken können. Meine Speicher sind voll, meiner inneren Festplatte droht der Tilt.
Entsprechend schlimm ist denn auch meine Reaktion gegenüber einer Postkartenverkäuferin am Hoan Kiem – See. Die junge Frau ist hübsch, stupft mich an, zeigt mir, natürlich etwas aufdringlich, die Postkarten, die ich längst schon von ihren Kolleginnen kenne, und ich finde es in diesem Moment einfach nur noch grotesk, dass ich jetzt, an diesem lauschigen See meinen Hintern am Ende wieder von der Bank heben muss, um die Frau los zu werden. Dass sie beinamputiert ist, bleibt egal. Sie kriegt meinen ganzen Unwillen brüsk serviert. Ich habe keinen anderen Menschen in vier Wochen Reise so schroff behandelt wie diese unschuldige Frau. Dass sie sich schlussendlich gleichmütig abwendet und weiter geht, als würde sie von westlichen Touristen genau das schon zur Genüge kennen, macht die Sache für mich nicht besser, im Gegenteil.
Herrschaft, wie mies habe ich mich nun erst recht gefühlt!
Durchatmen. Und erinnern, was heute alles war, sein durfte, wo ich bin, was mir geschenkt wird damit, und mit dem Kameraden, der mein ganzes Leben schon an meiner Seite ist, auch darüber reden, während ich auf den Riss in meiner Hose starre. Yin und Yang – gilt das auch für die Freundlichkeit und die Gehässigkeit, die ich an meine Mitmenschen verteile? Wo liegt das Gleichgewicht und wer sorgt dafür, dass dort, wo ich Unrecht tue, ich nicht genau diese letzte Ungerechtigkeit verübe, die jemanden verzweifeln lässt?
Eine Stunde später freue ich mich auf die Altstadt und die Menschen, die mir ihr Arrangement mit dem Alltag vorleben – und ich bin neu bereit, zu lernen, anzunehmen und mit Dank um mich zu schauen.



Das Wetter ist schön, der Himmel ist zwar grau, aber ab und zu scheint die Sonne, die Temperatur ist angenehm.

Wir bleiben fast zwei Stunden, dann schlendern wir durch die Altstadt zurück zu unserem Hotel. Wir würden gerne in ein Strassencafé sitzen, aber wir finden keines. So bleiben wir an manchen Kreuzungen einfach stehen, um das bunte Treiben zu beobachten. Die Strassen, die hier eher eng sind, können wir problemlos überqueren. Ueberall wird etwas verkauft, es gibt praktisch kein Haus, in dem unten kein Laden ist.




Sieht man an den Fassaden hoch, sind schöne Details zu entdecken: Bogenfenster, eine hübsche Balkonbrüstung, ein schönes Ornament, liebevoll gestaltete Balkone mit Grünpflanzen und Vogelkäfigen, aber auch Zerfall. Wie überall während unserer Reise, fühlen wir uns auch hier völlig sicher.




Thinky sieht mit seiner zerrissenen Hose jetzt sowieso eher wie einer aus, dem man etwas geben denn nehmen sollte.

Im Hotel kennt man uns zum Glück schon und händigt den Schlüssel aus. Wir schauen die gemachten Bilder an, auch die, die ich gestern verschlafen habe, machen Kaffee.

Gegen 17:00 wollen wir nochmals raus, in den kleinen Park vor unserem Hotel. Wir hatten schon bessere Ideen. Dazu müssen wir nämlich erst einmal über die Quan Than, eine Hauptverkehrsstrasse, und das zur Stosszeit. Es gibt zwar einen Zebrastreifen, aber dessen Bedeutung ist auch hier völlig unbekannt. Durch gefühlte 200 Motorräder hindurch bahnt sich Thinky für uns einen Weg, und als wir schliesslich auf der anderen Strassenseite angekommen sind, nickt uns eine alte Frau anerkennend zu. Da kommt mir in den Sinn, dass J gesagt hat, in der Rush-Hour überquere er möglichst nie eine Strasse.


Die Kunst, die Strasse zu überqueren


Das Überqueren der Strasse als Fussgänger hat wirklich etwas Abenteurliches. Wir haben das Abenteuer bestanden, und ich fühle mich daher autorisiert, Touristen, welche die örtlichen Gepflogenheiten nicht kennen, die folgenden Tips zu geben:
1)
Sind Sie zu zweit, muss Ihnen der Partner total vertrauen und damit sich in die Hand des Führenden begeben. Das kann zwar Partnerschaftsprobleme offenlegen, angesichts der Tatsache, dass es in Hanoi allerdings kaum eine Strasse gibt, die zwei Fussgängern mit divergierendem Passgang die gleichzeitige Überquerung möglich machen würde, kann der Vorgang auch ungeahnt therapeutisch auf die Beziehung einwirken, wenn Sie denn Beide diese Lebensschule überleben, wovon erstaunlicher Weise auf Grund statistischer Daten doch ausgegangen werden kann.
2)
Nehmen Sie in keinem Fall Blickkontakt mit dem rollenden Verkehr auf. Der besteht praktisch ausschliesslich aus Rollern, und unter jedem Helm begegnete Ihnen ein Augenpaar, das Ihre Augensprache genau so wenig zu deuten vermag wie Sie die asiatische. So unglaublich es Ihnen erscheinen mag: Hier sind Sie das unberechenbare Element, und alle Ihre natürlichen Instinkte zur Kommunikation sind gänzlich ungeeignet, das Problem zu lösen.
Fixieren Sie allenfalls aus dem Augenwinkel die zehn Meter Strasse seitlich vor Ihnen, um abzuschätzen, wie viele Roller sich noch vor Ihnen vorbei drängen werden.
3)
Halten Sie dennoch nur im äussersten Notfall an – und wenn doch, dann in keinem Fall brüsk, denn auch der Platz unmittelbar hinter Ihnen ist, haben Sie sich einaml in Bewegung gesetzt, bereits für Durchfahrten vorgesehen. Signalisieren Sie mit ständigem “Vorwärtsschieben”, dass auch Sie (Beide!) über die Strasse wollen, und zwar nicht im Laufe des Tages, sondern GENAU JETZT.
4)
Versuchen Sie nie, gegenüber Autos einen vermeintlichen Vortritt zu erzwingen. Autos kennen keine Fussgänger und das stichhaltigste und ständig neu erprobte Argument dafür, dass sie dies auch nicht nötig haben, ist die jederzeit mögliche Erfahrung einer in der Tat sehr unterschiedlichen Masse-Verteilung.
5)
Wenn Sie einen Fussgängerstreifen erspähen, so gehen Sie ruhig hin. Sie müssen nur wissen, dass diese Markierungen hier nicht ganz so viel bedeuten. Es sind nicht einmal Hilfen der Absichtserklärungen passierwilliger Fussgänger, aber immerhin Treffpunkte für Menschen gleicher Interssen mit einem identischen Problem. Das verbindet. Und ist ideal für Newbies, also alle West-Touristen, die sich dann in den verlängerten Windschatten von Einheimischen begeben können. Dabei ist dann auch Ihr Windschatten für Ihre Frau gross genug. Versprochen. Es ist, in der Tat, ein Abenteuer, und das erhebende Gefühl am anderen Ufer der Strasse der gerechte Lohn!



Im kleinen Park gibt es einen Springbrunnen. Und viele Eltern, die mit ihren Kindern zum Spielen herkommen. Wir setzen uns auf ein Mäuerchen vor einer Blumenrabatte, Bänke hat es keine, und sehen ihnen lange zu.

Diesmal überqueren wir die Strasse an anderen Ende des Parks. Hier hat es ein Lichtsignal, aber das scheint nicht zu funktionieren. Immerhin gibt es Verkehrslücken, dh., dass nur etwa 30 Mopeds auf einen zufahren, und so kommen wir wieder gut zum Hotel zurück.

Wir gönnen uns noch ein Stündchen Internet und einen Kaffee in der Bar, die hier im Parterre ist. Am Nebentisch sitzt ein Aussie-Paar aus Adelaide, das morgen ebenfalls in die Halongbucht fährt, aber auf ein anderes Schiff geht.

Wir müssen für diesen Trip noch eine Übernachtungstasche packen, denn wir wollen nicht unser ganzes Gepäck mitschleppen, sondern hier im Hotel lassen. „Kein Problem“ versichert uns der nette Mann an der Reception.