Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Saigon - Begegnung mit einem besonderen Postbeamten

∞  14 Juli 2009, 06:50

Erlebt am 30. März 2009


[ Bilder zur Erzählung ab hier ]


Aus der französischen Kolonialzeit sind einige Gebäude erhalten geblieben, u.a. die Nôtre Dame und die von Gustave Eiffel entworfene Hauptpost.
Zuerst besuchen wir die Kirche,




die seltsam leer wirkt, nicht nur weil es kaum Gläubige hat. Davor lässt sich ein Brautpaar ganz professionell fotografieren, in allen möglichen kitschigen Posen, zu denen sie durch eine Assistentin angeregt werden, die ständig an ihnen rumzupft.




Auch drei Girls haben sich diesen Ort für ein Fotoshooting ausgesucht.




Gleich gegenüber ist die Hauptpost, ein imposantes Gebäude, innen und aussen.






Ohne M wäre er uns überhaupt nicht aufgefallen: Da sitzt Tag für Tag im Publikumsbereich ein über 80jähriger Mann und arbeitet als Übersetzer und Verfasser von Briefen. Jetzt ist er gerade an einem Liebesbrief in Englisch, der mit den Worten „Dear Ken, I could not sleep all night long“ beginnt. (Ich hätte das ja niemals gelesen, aber M hat zitiert;-).




Der Mann schreibt trotz seines Alters gestochen schön, kein bisschen zittrig.
M kennt ihn, hat ihn angesprochen, jetzt unterhalte ich mich mit ihm auf Französisch. Er nimmt die Brille ab, und seine wachen Augen blicken voller Güte.




Er erzählt mir, dass er mit 15 zur Post kam, und bis zum Krieg als Briefträger arbeitete. Nachher fing er als „Freischaffender“ mit den Uebersetzungen an. Er ist so bescheiden, zufrieden, scheint vollkommen in sich selbst zu ruhen.




M weiss, dass über den Mann schon im TV berichtet wurde, und der Spiegel hätte ihn auch einmal interviewt. Er nennt ihn Opa, wie in Vietnam für ältere Menschen üblich. Ich würde ihn auch gerne so nennen.


Aufgeregt hier, gelassen da


Vor der Hauptpost in Saigon treffen wir auf viel beschäftigte Fotografen. Drei Mädels mit Modelträumen verrenken sich in angestrengt spontanen Posen und lächeln dazu, als hielten sie das Glück zwischen den blitzend weißen Zähnen fest, einträchtig Kopf an Kopf und doch nichts als Konkurrentinnen. Ich höre den Zunder schon knistern…
Gleich daneben, vor der Kirche Notre Dame, steht ein Hochzeitspaar in Smoking und Brautkleid zur finalen Pose bereit, als wäre dies das Ende aller Eintracht, so Stirn an Stirn. Dabei wirkt es so gestresst, dass man meinen könnte, die beiden hätten den scheinbar schönsten Tag des Lebens schon als Lug und Trug entlarvt. Dabei findet der erst morgen statt, wie man uns versichert. Kopf hoch, wird schon werden!
Wie anders sieht da das Leben des alten Mannes aus, den wir in der Hauptpost kennen lernen: Weit über achtzig, kommt er jeden Tag her und sitzt da, an seinem kleinen Tischchen. Seit mehr als zwanzig Jahren ist er da, wann immer die Post geöffnet hat, und bietet seine Dienste Menschen an, die des Schreibens nicht kundig sind oder eine Übersetzung brauchen. Wohl zuverlässiger als die Post selbst, für die er früher auch gearbeitet hat, ist er in der ganzen Stadt bekannt. Er freut sich über das Foto, das ich von ihm mache, und doch scheint nichts wichtiger zu sein als der Brief, den er zu übersetzten angefangen hat. Er ist ein Mann des Vertrauens und genießt den Respekt aller Anwesenden.
Man kann es im Alter auch schlechter treffen, wobei in diesem Fall wohl gilt, dass da ein Mensch nicht darauf wartete, gebraucht zu werden, sondern seiner eigenen Welt treu blieb und im Rhythmus seiner Zeit und inneren Uhr bei dem blieb, was er für seine Bestimmung hielt und hält: Für die Kunden seiner Post da zu sein. Und für mich. Denn bevor ich ein paar freundliche Worte an ihn richten konnte, hatte er mich längst mit seiner Bescheidenheit und seiner stillen Ausgeglichenheit beschenkt. Ich werde ihn nicht vergessen.