Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Reisen: Offenbarungen für Augen und Seele

∞  29 Dezember 2007, 20:49

Ich schiebe dem eben veröffentlichten ersten gleich auch noch den zweiten Teil meiner Antwort an Nana nach. Ihre Frage nach der Arktis und dem Mond hat meine Gedanken endgültig von jeder Scholle gelöst und mir die tiefe innere Dankbarkeit über das Geschenk des Reisens bewusst gemacht.

Liebe Nana,

Ob ich wissen möchte, wie es auf dem Mond oder in der Arktis ist? Ob meine Reiselust keine Grenzen hat? Das Universum ergründen, immer weiter dem Fernen nachsteigen, das niemals näher kommt?

Je älter Du werden wirst, desto kleiner wird Dir die Welt erscheinen. Du wirst selbst die Erfahrung machen, dass es heute dem Menschen rein technisch gesehen ein Leichtes ist, fast jeden Punkt der Welt zu erreichen. Du kannst darauf antworten, dass das schade ist. Wie immer, wenn ein Geheimnis zerstört oder etwas scheinbar Grosses plötzlich überschaubar wird. Wir Erwachsenen neigen dazu, das gut zu finden, weil es zu bedeuten scheint, dass wir sicherer sind in einer überschaubarer gewordenen Welt. Es kann aber auch bedrückend sein, wenn Dir bewusst wird, dass 40’000 km Erdumfang im Grunde ein Nichts sind für diesen Planeten, der punkto Grösse im Weltall etwa so bedeutend ist wie eine Nussschale, die auf dem Atlantik schwimmt. Aber lass uns auf die Nussschale zurück kehren, bevor wir es mit der Angst zu tun kriegen und Deinen ursprünglichen Gedanken nochmals aufnehmen. Die Welt bleibt für uns nämlich sehr wohl ein unermesslicher Schatz voller Geheimnisse und Reichtümer, wenn wir uns wirklich auf sie einlassen und mit offenen Augen und wachen Sinnen jedem Leben, das uns begegnet, unsere Aufmerksamkeit schenken.
Immer, wenn Du reist, wird Dir tatsächlich eine Geschichte erzählt. Das bleibt auch so, wenn Du die fernen Orte kennen gelernt hast. Was ich Dir davon erzählen kann, ist meine Geschichte von dieser Reise. Ich bekam sie so erzählt und habe sie mir so gemerkt, wie es mir in dieser bestimmten Zeit zugedacht war. Ich habe dabei die Dinge wahr genommen, für die ich offen war, ich habe mich vor jenen gefürchtet, für die ich nicht bereit war und ich habe andere Erlebnisse und Beobachtungen missbilligt, die ich nicht verstanden habe. Dein Nachbar, wenn er die gleiche Reise macht, wird Dir vielleicht eine nicht unerheblich abweichende Geschichte darüber erzählen. Das zeigt vor allem eines: Wenn Du reist, dann bist Du vor, zwischen und nach Abreise und Heimkehr eine Reisende auf dem Weg zu Dir selbst. Alles, was Dir begegnet, was du siehst und was Dich staunen lässt, was Dich wirklich berührt, hat mit Dir zu tun, geht Dich was an und wird Teil Deiner Erfahrungen. Die segensreichste Reise ist eine, bei der Du ein Stück näher zu Dir nach Hause findest.
Dann ist die Welt auch niemals kleiner geworden, sondern grösser. Und tiefer.

Reisen zu dürfen in fremde Länder und Kulturen, ist ein riesiges Geschenk. Die Begegnungen, die ich haben durfte, bleiben mir unvergesslich. Wir haben Freunde in Indien, in der Mongolei gewonnen.
Aber was ist mit dem Schock der Kulturen, mit den vielen Menschen, denen wir reichen Touristen wie Gesandte eines fremden Planeten vorkommen mögen? Meine Reisen, die mich so beschenken – machen sie umgekehrt andere Menschen ärmer, verschärft sich Armut, Leid und das Gefälle zwischen reich und arm dadurch noch?
Die einzige Antwort, die ich darauf weiß, ist, dass es in meinen Möglichkeiten liegt, zu hören, was mir gesagt wird, zu sehen, was mir gezeigt wird und zu fühlen, was mir geschenkt oder auch geklagt wird. Was ich in fernen Kulturen von einfachen und doch so reichen Menschen über mich lernen durfte, hat mich demütig gemacht. Ich hoffe daher, dass ich wenigstens manchmal ein Samenkorn werden durfte, das in der Wüste der Ignoranz eines Gesprächspartners eine Sonnenblume hat wachsen lassen. Vielleicht ist das alles furchtbar kompliziert und überhaupt nicht fassbar und verständlich für Dich. Vielleicht beschleicht Dich aber wenigstens eine Ahnung, was ich meine und fühle. Und dieses Gefühl, das zu einem Wissen werden kann, das Du auch über Dich selbst gewinnst, macht auch jede Reise am Ende aus:

Eine Reise war eine tolle Reise wenn Du an deren Ende heimgekehrt bist, Dich eingefunden hast in Deiner vertrauten Welt und Du fühlst, dass Du Dir selbst ein bisschen näher gekommen bist. Denn genau da, liebe Nana, in Dir drin, ist das Universum. Nirgendwo sonst können wir mehr darüber lernen. Alles, was wir lernen und in unserem Leben als wahr erkennen und annehmen, sagt uns unser Innerstes. Deswegen ist es so wichtig, dass wir es mitnehmen auf Reisen, dass wir eine Reise nie als Flucht verstehen, sondern als Wanderung zu uns selbst.
Im Grunde ist eine Reise wie ein Tag in Deinem Leben, im Hier und Jetzt. Aufbruch, Wanderung, Begegnung, Heimkehr.

Jetzt habe ich so viel gesprochen, dass dieses Sprichwort der Tuareg in Mali wunderbar zu mir passt:
Wer andere besucht, soll seine Augen öffnen, nicht den Mund.

Und:

Alles in der Welt ist merkwürdig und wunderbar für ein Paar wohl geöffnete Augen.
José Ortega y Gasset

Ich wünsche Dir beim Lesen von Geschichten und Büchern und bei jeder kleinen oder grossen Reise manchen Grund zum Staunen und nie versiegende Neugier am Leben.

Liebe Grüsse

Thinkabout

2. Dez. 2004