Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Mongolei 2006 - Tag 4 (1)

∞  15 Mai 2007, 20:06

Erlebt am 10. Juli 2006, in Tsetserleg


Auf Besuch in der Stadtwohnung



In einer Jurte ausschlafen bis um neun Uhr vormittags: Noch sagt uns mehr der Verstand als die körperliche Erfahrung, was für ein Luxus das ist! Bis auf meine Frau sind schon bald alle am Frühstückstisch versammelt. Sie aber hat einen Stein im Magen. „Immerhin“, sagt sie, „hätte sie noch nicht erbrochen. Noch nicht…”.
Ich lasse sie noch ein wenig liegen, und treffe beim Frühstück auch Onos Schwester wieder. Sanah lebt seit sechs Jahren in Seoul und erzählt von den Anfängen, als sie im fremden Land Fuss fassen musste, ohne die Sprache zu können, mit dem Mann als einziger Bezugsperson… Ono und Thomas konnten sich wenigstens von Anfang an problemlos unter einander verständigen…

Während wir da so sitzen und ich mich ganz gerne einnehmen lasse von Sanahs sensiblem, kreativem Wesen, aus dem in allen Poren das Künstlerblut drängt – sie ist ausgebildete Schauspielerin – frage ich mich, was Menschen wirklich heimisch werden lässt? Was hält Sanah in Korea am Blühen? Und was haben bei dieser Frage meine Massstäbe zu suchen? Der Mensch orientiert sich an dem, was er kennt, und so richtet er sich auch mit seinen Gefühlen ein. Wunderbar in jedem Fall, zu sehen, wie sich Sanahs Neugierde an uns ganz langsam gegen die Scheu durchsetzt und Augen und Worte immer offener und lebendiger werden.

Dies alles macht mich hellwach, während ich Gedanken an die Räume unter mir lieber verdränge… Die Waschräume und Toiletten waren auch heute morgen erst verschlossen. Dann war festzustellen, dass die Spülungen noch immer nicht funktionierten, worauf uns die Küche grosszügig einen riesigen Koch-Topf mit Wasser zur Verfügung stellte… Vielleicht steht der noch immer da unten… Wir haben dann auf jeden Fall einen Spülkasten selbst repariert, aber für den Rest des Tages und damit unseren Aufenthalt alles versucht, um möglichst wenig auf diese Nass-Gemächer angewiesen zu sein… Denn nach einer Spülung gab es ja wohl auch fortan keine Möglichkeit mehr, den Befehl “Wasser Marsch” in die Tat umzusetzen…

Meine Frau gesellt sich zu uns und mag nun gar etwas essen. Unsere Verdauungs-Organe scheinen tatsächlich mit unserem Reisetempo mitzuhalten und sich auch schon ein wenig assimiliert zu haben!
Um halb eins werden wir von Onos Bruder abgeholt und fahren zu den Eltern. Wir halten bei einem Wohnblock, der einen nicht besonders stattlichen Eindruck macht…





Wir steigen durch ein dunkles, nüchtern gesagt ein bisschen versifftes, schmutziges Treppenhaus hoch in den dritten Stock, wo wir allerdings eine saubere aber sehr kleine Wohnung betreten.
Das sind nun also die eineinhalb Zimmer, die Onos Eltern freien Willens gegen ein eigenes Haus eingetauscht haben. Auch wenn man sich auch das Haus nicht so vorstellen soll wie bei uns, scheint das schwer verständlich. Onos Eltern leben hier mit einem Sohn und oft weiteren Hausgästen:
In einer kleinen Küche, einem Bad mit Dusche und einem etwa 20qm grossen Wohnraum, in dem an einer Wand eine Bettstatt, die auch Sofa ist, steht, an einer zweiten ein grösserer Tisch mit vier Stühlen, und unter dem Fenster in der Ecke der Fernseher mit DVD-Player. Letzteres kann man auch in einer Jurte oder einem einfachen Haus antreffen, nicht aber das fliessende Wasser und die Toilette im “western-style”, wie ein indischer Freund unsere gute liebe Keramik-Toilettenschüssel mit Spülung mal genannt hat. Und das genügt offenbar, dass die Eltern sich komfortabler fühlen als zuvor…
Ich denke an mein Unwohlsein mit unserer sanitären Havarie im Camp und weiss, dass ich der Letzte bin, der diesen Vorteil kleinreden sollte…

Kaum sitzen wir auf dem Teppich, werden Süssigkeiten gereicht, Quarkprodukte, und natürlich gibt es sogleich wieder zu trinken. Ein sehr leckerer Cassis-Saft, Schlauwasser (das ist genau das, was damit angedeutet wird) und Ingwer-Schnaps… Die Tassen und Gläser stapeln sich beinahe auf dem Boden, bis eine leckere Nudelsuppe mit reichlich Einlagen wirklich den Appetit anregt. Und die folgenden Buuts, Teigtaschen mit Hammelfleisch, sind sooo lecker! Nur, wohin damit? Wir sind doch schon längst wieder satt!
Unterhaltung ist schwierig. Wir können eigentlich nur mit Thomas reden, wenn Ono nicht gerade übersetzen kann, und der Fernseher läuft auch hier ununterbrochen. Es wird zwischen Mongolischem Fernsehen und der Deutschen Welle hin und her gezappt. So sehen wir, wie die neue Statue von Chinggis Khaan auf dem Sukhbaatar-Platz in Ulaanbaatar eingeweiht wird und wie Klinsmanns Truppe vor dem Brandenburger Tor für Platz drei an der WM gefeiert wird. Wir erfahren, dass Italien im Elfmeterschiessen Weltmeister geworden ist.
Die Eltern packen Geschenke aus. Mutter bekommt ein Blutdruckmessgerät mit Digitalanzeige. Sehr praktisch, wenn die Bedienung klar ist und das Gerät genau nach Massgabe angewendet wird. Die Bedienungsanleitung in deutsch und englisch ist sicher umfassend – aber wird sie je gelesen? Taschenlampen mit Kurbelantrieb, also ohne Batterie, ein Wurfspiel für den Bruder, usw. usw. Und Süssigkeiten. Bonbons, Schokolade. Alles verschwindet nach und nach in der Küche, wo eifrig gehandwerkt wird. Die Familienmitglieder müssen sich da auf den Füssen rumstehen, denn immer wieder kriegen wir ein neues Gesicht zu sehen.