Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Mongolei 2006 - Tag 3 (2)

∞  29 April 2007, 18:41

Erlebt am 9. Juli 2006, in Tsetserleg


Die nachgeholte Hochzeitsfeier



Allmählich füllt sich der Raum mit noch mehr Gästen, und wir nehmen an den zum Eingang hin im offenen Hufeisen angeordneten Tischen Platz. Meine Frau und ich kriegen Ehrenplätze. Wir vertreten quasi Thomas’ Eltern und sitzen also zur linken des Bräutigams, der heute so etwas wie zum zweiten Mal Onos Ehemann wird.
Die Anwesenden stehen der Reihe nach auf und werden von Onos Mutter vorgestellt. Mir scheint, dass auch Ono die weit verzweigte Verwandtschaft auf diesem Weg wieder mal neu einzuordnen lernen scheint. Das schaffe ich nicht. Ich habe sofort wieder vergessen wer die Tante des Bruders mütterlicherseits ist oder wie und wer auch immer.

Aber es ist faszinierend, die Verwandtschaftslinien der beiden Familien an den gegenüber liegenden Hufeisenschenkeln der Tischordnung zu beobachten und die ähnlichen Gesichtspartien zu erkennen. Gesichter und Menschen mit den gleichen Lippen, den gleich geschnittenen Augen etc., während ihre Kleidung und ihr Auftreten die so unterschiedliche Geschichte ihres bisherigen und gegenwärtigen Lebens erahnen lassen.

Die Tische sind durchwegs bereits mit Esswaren überfüllt, wobei Süssigkeiten, Butter- und Quarkgebäck und Käse zusammen mit einem Nudel-Wurstsalat an frischer Mayonnaise gleichzeitig mit einander konkurrieren…

Mayonnaise in fernen Ländern, und kalte Speisen generell, sind an sich Gerichte, die man zum Schutz des eigenen Magens unbedingt meiden sollte… Aber dies ist Onos Familienfest, auch wenn es in einem Restaurant stattfindet, also essen wir, und der Nudelsalat schmeckt ausgezeichnet. Dass ich mich daneben eher an die Tomaten und den Kohlsalat halte, als an die Süssigkeiten, versteht sich von selbst. Wenigstens die Reihenfolge der Speisen soll für den Magen nicht ganz neu sein…
Ach ja, zu trinken gibt es auch, und zwar reichlich. Vor jedem Platz steht eine volle Mineralwasserflasche, und dort bleibt sie dann auch an vielen Orten den ganzen Nachmittag über unangetastet.

Wir beginnen mit warmem Buttertee, der ganz köstlich mundet. Dann gibt es Kumis (vergorene Stutenmilch), der ein wenig wie saurer Most schmeckt (wohlmeinend) und mit höchster Vorsicht zu geniessen ist, weil er uns Westeuropäer wie ein Abführmittel durchputzen kann, was dann dazu führt, dass man ganz hurtig „nach den Pferden schauen geht“, wie die Mongolen so schön sagen. Wir kennen das schon von unserer ersten Reise, also nippen wir nur in vorsichtigen Schlucken daran. Immerhin lässt sich erahnen, dass dieses Getränk ganz gut den Durst löschen kann, so man denn welchen hätte. Links und rechts haben sie reichlich davon und der Kumis wird das ganze Fest über aus grossen Tontöpfen in veritable Masskrüge nachgefüllt.

Dann folgt eine Suppe mit Hackfleisch – Ono hat sie für uns extra fettarm bestellt. Es war ein Versuch… Und wir sind froh, dass Ono uns bedeutet, die Teller stehen zu lassen.

Längst ist das absolute Lieblingsgetränk aller Einheimischen aufgefahren worden: Vodka. Alle fünfzig Zentimeter steht eine volle Flasche bereit, und bekommt alsdann von Sektflaschen Gesellschaft, die Thomas und Ono in UB gekauft haben. Ich schaue mal, dass ich schleunigst einen festen Boden in meinem Magen anlegen kann, was mir mit Rindfleisch, Reis, Chipskartoffeln und sogar Gemüse sehr gut gelingt. Schmeckt echt lecker!
Dann stellt sich heraus, dass Sektflaschen in hiesigen Gefilden ziemlich exotisch sind und alle ziemlich ratlos vor den Sektkorken sitzen. Also schreite ich zur Tat, beobachtet von der gesamten Hochzeitsgesellschaft und vor allem vom Personal, das nun zumindest eine Grundlektion in gepflegter Bacchus-Kultur erwartet, die jedem Hotelfachpersonal-Lehrgang zur Ehre gereichen würde. Nur leider ist der Sekt so warm und auf der Fahrt am Morgen so durchgeschüttelt worden, dass ich keine Chance habe – und vor allem nicht mein bemitleidenswerter junger Nachbar, der neben mir stehend die volle Ladung ins Gesicht und auf die Brust kriegt, als hätte er eben den ersten Formel 1 – GrandPrix von Blumendorf (=Tsetserleg) gewonnen. Der begossene Pudel lacht – Gott sei Dank. Und wir andern lachen mit.
Das Oeffnen aller weiteren Sektflaschen wird zum mittleren Sprudelbad, aber die Stimmung ist prächtig. Höchste Zeit für folkloristische Vorführungen.

Mama Ono hat lange Jahre das örtliche Theater geführt und die Beziehungen spielen lassen und Künstler engagiert. Es wird gesungen und getanzt, und dies mit bemerkenswertem Können.

Die Langton-Sängerin ist für meine Ohren zwar sehr gewöhnungsbedürftig, aber die Pferdekopfgeige ist einfach schön.



Nur zwei Saiten – aber deren Klang hat eine urwüchsige Kraft und füllt den Raum spielerisch leicht mit Wehmut. Oder ist es viel eher Gleichmut, Langmut, Gelassenheit?

Eine weitere Sängerin hat eine wunderbare, klare und volle Stimme. Sie wird zum Ende ein Ave Maria singen, uns Gästen zu Ehren, und das treibt mir die Tränen in die Augen.

Thomas kriegt von seinen Schwiegereltern ein prächtiges Hemd geschenkt, weiss und reich bestickt, und eine Jacke. Dazu gesellt sich eine silberne Trinkschale, überreicht mit einer Katha, die nur in der Mongolei immer blau ist (tibetisch traditionell wäre sie weiss). Hemd und Jacke sind gross genug, die Schwiegereltern haben sich offensichtlich gut informiert…
Ono Ihrerseits ist bereits in einem bodenlangen roten und mit gold bestickten Kleid zum Fest erschienen. Die Beiden sind glücklich, und das kann ich sehen. Nicht nur ich.

Während eingelegte Kirschen zum Dessert gereicht werden, extra für Ono und uns, die in die Mongolei versprengte Langnasen, und ich zum ersten Mal das Gefühl habe, dass jetzt der Vodka richtig gut passen würde, ist dieser neben dem Kumis längst zum Standardbegleiter aller Speisen und vor allem auch aller Reden geworden. Denn das Fest verläuft recht ähnlich, wie wir das bei uns kennen. Es gibt Pausen, die sich dehnen, in denen fast nichts gesprochen wird, so dass man sich am besten auf sein Essen konzentriert, und dann steht unvermittelt wieder jemand auf und hält eine Rede.
Den Anfang macht Baktar, Onos Vater, der plötzlich, irgendwo zwischen Suppe und Rindfleisch, aufsteht und in seinem besten Anzug die Festgesellschaft begrüsst. Nehme ich zumindest an, denn ich verstehe natürlich kein Wort. Thomas, meine Frau und ich sind die einzigen Nicht-Einheimischen hier. Baktar spricht dabei so leise und ist so zurückhaltend, dass ich den Anfang glatt verpasse. Die Festgemeinschaft quittiert seine Worte immer mal wieder mit einem bejahenden Gemurmel oder einem Kopfnicken. In der Folge werden andere Männer aufstehen und eine kurze Rede ans Brautpaar richten,

bevor sie singen.

Vor allem die älteren, die in der typischen Festkleidung der Nomaden erschienen sind.

Gesungen wird viel und meist durchaus schön, aus voller Kehle.

Die Melodien tragen die Worte wie auf Wogen aus dem Raum, genau so, wie Lieder in einer weiten Steppenlandschaft von nichts mehr erzählen können, als von der mongolischen Weite.

Und dann stehen Ono und Thomas auf, und singen zusammen ein mongolisches Lied, das sie offensichtlich vorbereitet haben. Nie war es so still unter den Gästen. Ono hält Thomas Hand und lächelt ihn an, dabei wächst ihr Stolz mit jeder gesungenen Zeile, während Thomas mit einem Lächeln im Gesicht wie eine deutsche Eiche steht und mit feiner aber sicherer Stimme das Lied zu Ende singt. Lauter Applaus ist nicht Sache der Mongolen, aber das breite Wohlwollen ist trotzdem im ganzen grossen Saal spürbar.

Die Künstler tragen Lieder vor, aber sie singen auch mit den Gästen. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre ohne Dünkel, und keiner stört sich am sich langsam bemerkbar machenden nasalen Gesäusel, wenn der Vodka zu warm im Körper aufsteigt…

Zweien unter uns muss dann gegen Ende hin ein wenig auf die Beine und aus dem Raum geholfen werden, was ohne grosses Aufhebens geschieht.

Nun wird getanzt. Ich bin heilfroh, dass ich mich hinter der Kamera verschanzen kann, denn was hier bestandene Nomaden – und vor allem Nomadinnen – aufs Tanzparkett legen, ist aller Ehren wert.




Haben die Männer gesungen, so sind es nun vor allem die Frauen, die tanzen.

Nicht nur mir bleibt wenig mehr als ein Staunen oder Schmunzeln, denn für ein begründetes Urteil fehlt mir im Gegensatz zu anderen das Fachwissen…

Sogar Thinkabouts Wife gleitet an mir vorbei, was dazu führt, dass ich dem Vodka endgültig eine besondere Kraft zuzuordnen bereit bin.

Mit der Zeit treibt uns der kollektive Schwindel all zu vieler beschwingter Drehungen (und nur das) an die frische Luft, wo wir auch die versprengten Schläfer auf der Wiese wieder finden. Es ist höchste Zeit für die Familienfotos, wie alle meinen, und dann beginnt mein Herz zu hüpfen. Ich habe zwar überhaupt keine Erfahrung als Gruppenfotograf, aber die Mongolen lassen sich gern fotografieren, und so präsentieren sich mir wunderbare Motive. Ich verschiesse an diesem Fest eine ganze Speicherkarte und einen Akku, und die geringste Kapriole hinter der Linse genügt, um neue Lacher zu produzieren. So gelingen wunderbare Schnappschüsse.


Dieses Foto berührt mich besonders: Wir konnten uns nicht mit Worten verständigen, aber der Mann hat vor mir seine Tabakdose ausgepackt und reicht sie mir hin: das klassische Begrüssungsritual, wenn sich Mongolen freundschaftlich begegnen. Schöner hätte mir nicht gezeigt werden können, wie willkommen ich war.

Am frühen Abend löst sich die Festgesellschaft auf, und wir haben Zeit, mit dem Brautpaar und Sanah, Onos Schwester, die in Korea lebt, einen Abendspaziergang zu machen. Wir kraxeln auf ein paar hohe Steine und lassen die Seele baumeln. Ono und ihre Schwester haben sich so viel zu erzählen. Viel zu viel für so wenige Gelegenheiten… Thomas, meine Frau und ich müssen nicht dauernd reden. Wir fühlen uns auch so wohl. Es ist schön, in dieser Ruhe zu sitzen, bis die Kühle der Nacht durch die Kleider dringt.

Im Camp stellen wir dann fest, dass es noch immer kein fliessendes Wasser und damit auch keine funktionierende Toilette gibt. Kopf und Magen scheinen aber das Fest gut überstanden zu haben, und wir legen uns heil zum Schlafen in die Jurte, begleitet vom plätschernden Geräusch, das zwei Frauen hinter unserem Rundzelt bei ihrem Pipi-Gang machen, während sie sich offensichtlich laut palavernd nochmals die Ereignisse des Tages in Erinnerung rufen.

Genau das habe ich hiermit jetzt und hier auch getan.

Anmerkung: Es ist richtig. Hier fehlen Bilder des Brautpaars. Ono und Thomas wissen von meinem Blog. Aber für sie wie für alle anderen Bekannten und Freunde von mir gilt: Sie sollen mit mir wo auch immer zusammensein können, ohne Gedanken daran, ob sie sich danach in meinem Blog wiederfinden. Ich betrachte das als Privatsphäre und mag deshalb nicht mal fragen, ob sie nichts dagegen hätten. Die Verwandten in der Mongolei haben auf dem Rücken der Pferde oder zumindest mit der Weite ihrer Landschaft vor der Stadt und der Unmittelbarkeit der Natur im realen Leben andere Wirklichkeiten als wir, fern von uns, leider, so dass sie uns eh näher sein sollten, als sie uns selbs auf Photos kommen können.