Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Mongolei 2006 - Tag 17 (2)

∞  3 Oktober 2007, 20:34

Erlebt am 23. Juli 2006 – in der Zahuy Zarmangiyn Gobi



Wider alle Vernunft




Die Ebene ist über weite Strecken mit Saksaul-Bäumchen bewachsen, die eher gelb-dürren Skeletten als saftig-grünen Büschen gleichen.



Ansonsten wächst hier praktisch nichts.



Wir steuern den Berg an, und je näher wir ihm kommen, umso karger wird die Landschaft, bis sie zu einer Wüste wird, die sich schwarz wie Kohle vor uns ausbreitet.



Um uns zu orientieren, fahren wir einen schwarzen Hügelkamm hoch und blicken auf schwarzbraune Erhebungen vor uns, wobei wir zwei Wildesel aufscheuchen, die, sich im Galopp absetzen, eine Staubfahne hinter sich herziehend. Ihr fahlbraunes Fell leuchtet auf dem Schwarz des Bodens wie Gold.

Ausser diesem überraschenden Auftritt scheinen wir die einzigen Lebewesen zu sein. Eine eigentliche Strasse gibt es nicht, und Fahrspuren bleiben auf diesem Untergrund nicht lange sichtbar. Wir können das zermürbenden Auf- und Ab der geraden Linie zur Bergflanke nicht weiter fahren, da wir keine Ahnung haben, wo wir dann wirklich hinkommen.

Während am Horizont die Luft flimmert, verläuft östlich von uns ein grünes Band höherer Bäume, was auf einen Flusslauf schliessen lässt. Führt er ein bisschen Wasser, könnten wir die Vorräte erneuern. 6 Liter Trinkwasser sind nicht mehr allzuviel… Gebrauchswasser konnten wir vor dem Eintritt in die Ebene an einem Flüsschen noch nachfüllen. In diesem Moment vergessen wir, dass wir Aufbereitungs-Equipement dabei haben und das Flusswasser einen ganzen Kanister füllt.

Wir entschliessen uns für den Grüngürtel – wo wir aber kein Wasser finden, nur etwas windgeschützte Plätze.
Und einen Bewohner.



Zum ersten Mal fehlt uns die Orientierung über die nächsten Schritte, und während jeder still überlegt, statt dass wir mit einander eine Auslegeordnung machen, ob wir hier übernachten und am Morgen am Berg vorbei wieder auf die Reiseroute einschwenken, oder ob wir weiter suchen sollen, sehe ich zwischen den Büschen einen Jeep, der die Ebene überquert.

Schnell steigen wir ein und folgen ihm. Aber er hat uns nicht gesehen und fährt weiter, hat unsere Fahrtrichtung bereits gekreuzt und liegt mehrere hundert Meter vor uns. Baktar gibt Gas. Wir werden immer schneller. Wir fahren, nein, wir rasen mit sicher sechzig Sachen quer versetzt zum Jeep hinter ihm her über die Erde, querfeldein. Es gibt ja keine Strasse. Jeden Moment kann ein Schlagloch die Fahrt stoppen, die Chance, es zu sehen, geschweige denn, ausweichen zu können, ist gleich null.

Thinkabouts Wife brüllt nach vorn, dass angehalten werden soll. Schon seit Minuten. Keine Reaktion. Baktar schaut nur seine Tochter an, die richtet ihren Blick starr nach vorn und gibt schliesslich das Zeichen, den Jeep einzuholen. Baktar wird noch schneller. Thinkabouts Wife brüllt nicht mehr, sie wimmert, weint, schreit, sie wolle aussteigen, sofort.

Thomas sitzt noch stiller als sonst auf dem Sozius, wir fliegen nun neben dem Jeep her. Er ist voll bepackt, doch die Frauen zu unserer Seite schauen nicht nach rechts, nur starr gerade aus. Ich habe meine Frau im Arm, und kann nicht mehr denken. Es schlägt uns gegen die Scheiben, die Decke. Reagieren kann ich auch nicht, ich kann Baktar ja nicht ins Steuer greifen. Wir sind während Minuten darauf angewiesen, dass die Vorsehung uns trotz unserer Missachtung jeglicher Vernunft beschützt. Endlich nimmt man uns der Fahrer des Jeep wahr, die Fahrt verlangsamt sich, und wir stoppen.

Während die Mongolen sich begrüssen, wird es sehr still im Auto. Meine Frau hat jegliche Fassung verloren und ich begreife sehr gut, was hier geschehen ist. Für ein für sie nebensächliches Ziel wurde über ihren Willen hinweg mit ihrem Leben gespielt. Sie ist nicht nur nicht ernst genommen worden in ihrer Angst, ihr Vertrauen wurde grundlegend missbraucht.

Gleichzeitig ist mir klar, dass Ono vor allem den Druck spürte, als Führerin und Gastgeberin ihres Landes für uns den Zielort finden zu wollen, und ihr Vater diese Unruhe seiner Tochter fühlte und in ihrem Sinne handeln wollte. Bitter denke ich, dass er es bisher nicht über seine Sorge für sein Auto brachte, normale Wellbrettstrecken etwas schneller zu passieren, dass es etwas angenehmer auszuhalten gewesen wäre, und jetzt das… Beim Kontakt mit einem Schlagloch oder einem grossen Stein wäre es nicht bei einem Achsenbruch fürs Auto mitten in der Wüste geblieben…

Meine Frau meint, sie könne keinen Kilometer mehr in diesem Auto mit diesem Fahrer fahren. Und doch bleibt sie sitzen. Wir haben gar keine Wahl. Am entlegensten Punkt unserer Reise, am verlassensten Ort auf Erden…
Wir fühlen uns sehr allein… Thomas sagt plötzlich ganz trocken:

„Eine dämlichere Aktion habe ich noch selten erlebt.“

Ich könnte ihn knutschen in diesem Moment. Er bezieht Stellung, schafft die Brücke zwischen Freunden und Schwiegervater, und reduziert damit die Distanzen, die plötzlich zwischen den Sitzen lagen.

Baktar und Ono kommen zurück. Er versucht, zu Thinkabouts Wife gewandt, einen Witz. Natürlich gelingt er nicht, und sie reagiert entsprechend. Aber ich erkenne darin, dass er sehr wohl weiss, dass er ein unverantwortbares Risiko eingegangen ist.

Die Insassen des Jeeps haben uns einfach nicht gehört, weil der Lärm vom Motor so betäubend ist. Und für die Menschen, wohl die einzigen, die hier leben, ist diese Fahrt mit einem Geländejeep nicht so aussergewöhnlich. Na ja, von mir aus…

Wir bekommen nun eine Lotsin ins Auto, die uns zum Wohnplatz der Familie führen soll, der in der besagten Oase und am Fuss des Berges liegt. Leider scheint sie nicht besonders ortskundig zu sein. Willkommen im Club, denke ich sarkastisch, als wir uns im dichten Tamariskengestrüpp auf immer sandigerem Untergrund zu verheddern beginnen. Schliesslich stoppen wir, und die Mongolen gehen zu Fuss weiter, um den Weg zu prüfen.

Es stellt sich heraus, dass sie uns den Weg führt, den sie normalerweise mit dem Motorrad zurück legt – und der ist für einen Kleinbus ein wenig zu eng… Das kratzende Geräusch der Äste auf dem Lack ist zum Teil sehr hell… Schliesslich aber finden wir zu den Jurten.

Hier können wir an einem Brunnen Trinkwasser nachfüllen. Und von dort führt uns in der fortschreitenden Dämmerung ein Mann zum Camp-Platz beim Berg. Es sind nur 7 km. Doch wir bleiben mehrmals beinahe im tiefen Sand stecken und brauchen eine Viertelstunde für das kurze Stück.

Wir stellen die Zelte auf – mit nach Heringen tastenden Fingern… Meine Frau zieht sich ins Zelt zurück. Ich konzentriere mich auf die Arbeit. Die Handreichungen. Fühle, dass es jetzt einfach darum geht, die Form und die Funktion der Gruppe zu wahren. Wir kochen mit Stirnlampen, und ich nehme mir bewusst Zeit zum Essen, klinke mich nicht aus. Thomas und ich erfühlen uns gegenseitig sehr gut. Er macht nie viele Worte, aber wenn er spricht, findet er meist sofort die richtigen. Vor mir liegt unser monströses Hackbeil auf dem Tisch. Der Schein unserer Stirnlampen fällt gleichzeitig darauf, und ich höre ihn sagen:

„Mach bloss damit keinen Blödsinn!“

Ich lache befreit auf. Dann meint er ganz einfach und trocken:

„Morgen scheint mir dann mal eine Familienkonferenz angebracht.“

Ich nicke, und denke, wie gut es ist, dass wir ausgerechnet jetzt zwei Nächte am gleichen Ort bleiben und damit etwas Zeit haben, bevor wir wieder ins Auto steigen müssen.

Die Nacht ist für Thinkabouts Wife grausam. Sie weint, wann immer sie aufwacht, und das geschieht oft… Nennt man das einen Schock? Was für ein Tag… !