Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Ankunft in Saigon (Ho Chi Minh City)

∞  8 Juli 2009, 20:45

Auf dem Weg nach Saigon, das heute offiziell Ho Chi Minh City genannt wird, haben wir es wieder sehr lustig miteinander. Unsere beiden Begleiter leben in der Stadt und freuen sich auf zwei Nächte zu Hause. Damit wir einen ersten Eindruck erhalten, fahren sie extra durch das Zentrum zu unserem Hotel: scheint eine sehr schöne, moderne Stadt zu sein. Nur die Freileitungen für den Strom, die sich allen Strassen entlang ziehen, sind etwas ungewohnt,




abgesehen vom Verkehr. Der besteht zu 90% aus Motorrädern, die einem wortwörtlich um die Ohren sausen.




3,6 Mio. sollen es sein, und das sind nur die registrierten! Fussgänger müssen sich irgendwie dazwischen durchschlängeln,




die Strasse überquert sowieso nur, wer gar nicht anders kann. Privatautos gibt es praktisch keine, da der Staat 100% Steuern auf den Kaufpreis erhebt. Was an PWs unterwegs ist, sind meist Firmenwagen, Regierungsfahrzeuge oder Taxis. Dann gibt es noch Busse, Lastwagen und Transporter. Allen gemein ist, dass sie unablässig hupen. In der Hauptverkehrszeit bricht der Verkehr regelmässig zusammen, Arbeitswege von zwei Stunden für wenige Kilometer sind normal.
In unserem Hotel findet eine Hochzeitsfeier statt und man erwartet die Braut, nicht uns. Wir nehmen deshalb den Nebeneingang.
Die gebuchte Zimmerkategorie ist nicht mehr zu haben, man überlässt uns deshalb eine Suite. Nicht schlecht: Wir hatten noch nie zwei Fernseher in einem Hotelzimmer, einen im „Wohnzimmer“, den anderen im Schlafzimmer. Das Programm auf der Strasse ist aber viel spannender. Wir rücken die zwei Polsterstühle zurecht, und können direkt auf eine Kreuzung sehen: Unablässig schieben sich die Motorräder ineinander, so viele auf einer Spur, wie es Platz hat, und das mit den Spuren ist auch nur eine Theorie.
Während wir uns aus der Früchteschale bedienen und Kaffee trinken, geht eine goldene Sonne unter.




Als Marionette ohne Fäden in Saigon


Saigon – eine gute Gelegenheit, im Hotel auch mal den Internet-“Service“ (er kostet extra) zu benutzen. Eine Stunde gönne ich mir. Und dabei stelle ich fest, dass das ja nirgends hin reicht. Ein paar Nachrichten verfolgen, das Mail-Konto prüfen, privat und geschäftlich, zwei, drei Anfragen beantworten. Und die Zeit ist um. Wobei eine klapprige Tastatur oder eine „verklebte Maus“ geringfügig erschwerte Bedingungen bedeuten.

Ich muss also in Saigon in einem Internet-Raum des Hotels sitzen, um zu begreifen, an wie vielen Fäden ich in meinem Alltag ziehe – und vor allem, wie viele Fäden an mir befestigt sind, an denen andere zupfen. Will ich mich darüber beklagen? Nicht unbedingt. Denn diese Fäden sind nicht ohne mein Zutun angebracht worden. Ich sage oder sagte Ja dazu.

Eine solche Reise schafft nun Distanz. Viele dieser Fäden ruhen, haben Pause, oder aber es ist zumindest keine Zeit, darauf zu reagieren – und, o Wunder, kein einziges Fahrrad fällt deshalb draußen auf der Straße oder in der Schweiz um. Meine Puppen haben zum Teil Pause. Hier und jetzt liegen sie im Schrank. Die konkreten, realen Anforderungen der Reise, der fremden Umgebung haben meine Aufmerksamkeit.
In der eigenen Wahrnehmung zählen für einmal jene Bewegungen, die der Wind vorgibt oder eine andere Kraft, deren Bedeutung mal endlich wahr genommen und nicht negiert wird. Dauerhaft ist sie ja nicht zu übersehen, weil sie sich nicht um unser Wollen schert, sondern unabhängig davon ihre Wirkung entfaltet.
Sind das auch Fäden? Macht die Natur uns zu Marionetten, oder ist es nicht vielmehr so, dass wir selbst uns Notwendigkeiten erfinden, weil wir Freiheit nicht ertragen?
Was machen wir mit freier Zeit, im Urlaub, auf Reisen, oder zu Hause, im Alltag?
Sind wir frei in der freien Zeit? Welche Qualität hat meine Beschäftigung, mit der ich die Zeit zubringe? Verbrauche ich Zeit, verscheuche ich sie, oder gehe und lebe ich mit ihr?

Welche Puppenspieler sollen ihre Fäden an mir anbringen dürfen? Welche Stücke spiele ich mit? Wer ist mein Regisseur? Nach welchem Stück will ich mich aufführen und danach tanzen?
Nein. Ich will gar keine Marionette sein. Ich will mich selbst verkörpern. Mit Fleisch und Blut, Geist und Gefühl.