Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Zwei fremde Mütter

∞  6 November 2009, 20:24

Eigentlich wollte ich erst die folgende kleine Situation, die eine reale Begegnung von heute beschreibt, zum Aufhänger für viele Fragen und Aussagen machen. Aber ich habe mich anders entschieden. Ich gebe nur das wieder, was ich im Moment blitzschnell bemerkte, aufnahm, registrierte – und lade Sie dazu ein, sich dabei mit mir auf die Bank zu setzen.


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Ich habe noch etwas Zeit. Auf jeden Fall kann ich heute nicht genug Sonne kriegen, und weil diese Sonne gerade so schön und kräftig scheint und so freundlich ist, genau die Bank vor mir anzulächeln, setze ich mich hin und recke das Kinn gen Himmel, schliesse die Augen und geniesse die prickelnde Wärme auf meinen Wangen.


Von links nähern sich stöckelnde klackende Schritte. Ich blinzle in die Richtung, und mir nähert sich die Frau, die ich mir unter diesem Stöckeln so ungefähr vorgestellt habe. Schlank, kniehohe Stiefel, enge Leggins, weiter Pullover. Schlenkernde, grosse, zu grosse Ohrringe, die in der Sonne blitzen, wallendes blondes Haar, hoch stehende, markante Backenknochen, dunkel geschminkte Augen. Sie hat einen leicht mürrischen Zug um den Mund und presst die Lippen zusammen, bevor sie den Rauch der Zigarette ausstösst. Dann ruht die Hand wieder auf dem Stossbügel des Kinderwagens, den sie vor sich her schiebt; der Zigarettenrauch steigt mir in die Nase, bevor sie an mir vorbei geht. Ich wende mich um und blicke in die andere Richtung: Auch hier kommt eine Mutter mit Kinderwagen, fast das gleiche Modell, scheint mir. Die Frau trägt unförmige schwarze Schuhe mit hohem Schaft und flachen Absätzen. Sie ist total verschleiert. Vollständig. Kein Sehschlitz, die Stoffbahnen fallen von ihrem Kopf über die Schultern nach unten, die Arme stecken in langen schwarzen Handschuhen. Das grelle Orange des Kinderwagens und das bunt gekleidete Mädchen an ihrer Hand wirken dagegen absurd. Die Augen des Mädchens sind dunkelbraun, sie versprühen Lebensfreude, und das Mädchen scheint die Blicke, die auf ihr und ihrer Mutter haften, nicht zu bemerken. Wer immer sich im Moment in der Ladenpassage befindet, schaut den beiden nach, oder starrt ihnen entgegen. Praktisch vor meinem Bänkchen kreuzen sich die Mütter, und gehen ihren Weg weiter, wie an der Schnur gezogen.