Reflexionen

In Wort und Bild gesehen, gedacht und gefühlt
Zum Betrachten, Nachdenken, Mitdenken, Vordenken
Mit Lebenslust ein Leben lang, mindestens


Neulich im Café Sprüngli

∞  4 April 2008, 00:08



Ich bin zu früh. Eigentlich bin ich es schon seit einer Stunde. Früher hätte ich fieberhaft überlegt, wie ich die Zeit jetzt füllen könnte und hätte aus der vielen Zeit eine knappe gemacht, um am Ende nur mit grösster Mühe zu spät zu kommen.
Nun aber sitze ich nach vielen leisen und schlendernden Schritten, vorbei an gestöpselten Ohren, an nervös im Gehen oder schon fast Laufen haspelnden Fingern und mit dem Nachhall von drei fremden Telefongesprächen im Ohr im Café Sprüngli am Paradeplatz.

Ich habe keine Zeitung, und es macht mich nicht nervös. Ich schaue mir den Trubel an und versuche, mich an das murrend murmelnde Grollen des nie abklingenden Geräuschpegels zu gewöhnen. Lemminge auf Futterstation. Seit dem Umbau ist das Publikum gemischter. Es gibt nun auch unter Fünfzigjährige mit dem quengelnden Drang nach etwas Nervennahrung.

Aber sie sind noch da, die Fregatten (etwas boshaft) jedes anständigen Tearooms, den es längst nicht mehr gibt. Sie leben noch, die älteren Damen (freundlich), die aber schwer tragen am Verlust des einst eigenen Terrains. Und so kommt sie denn auf mich zu, diese eine Vertreterin ihrer Gattung, die sich in meine Richtung verirrt hat. Denn ich sitze, strategisch ungünstig, weil eben gerade hier frei wurde, an einem Vierertischchen, wobei die kleinen Flächen kaum mehr Platz bieten als für vier anständige Kuchenteller (womit ich nicht sagen will, die Kuchenteller hier würden diesen Anspruch erfüllen), aber für meine kleinen Amaretti und den Espresso wird es schon reichen. Und für den meiner Kollegin natürlich auch. Sie vermisse ich jetzt schmerzlich, denn die Fregatte hat den Weg zu mir zurück gelegt und schaut mich prüfend an.
“Ist hier noch frei?”
“Im Moment schon noch. Allerdings erwarte ich noch jemandem zu einem netten Gespräch.”
Vielleicht versuche ich, dabei verschwörerisch zu wirken. Ich hätte es mir sparen können. Die zwei Einkaufstaschen landen auf dem Stuhl mir gegenüber, die Handtasche daneben. Ich fürchte schon, sie will sich neben mich setzen und später gleich auf meinen Schoss. Aber meine Furcht ist, natürlich, völlig unbegründet. Sie mag sich noch überhaupt nicht setzen. Zu schön muss es sein, wieder einmal auf einen Mann herunter sehen zu können, denn ich sitze eingekeilt zwischen Sitzkissen und Tischbein und beginne, mich ergebend in mein Schicksal zu fügen.

Und richtig:
“Dafür brauchen Sie ja wohl sicher nicht vier Stühle, oder?”
“Nein, aber zwei sollten es schon sein.”
Jetzt wird sie wütend. Aber mit dreissig Jahren Rückstand habe ich einfach nicht die notwendige Autorität. Da, sie will sich eben setzen, da steht ein älteres Paar am Eckfenster von einem runden, lauschigen Tischchen auf. Ich habe keine Chance, eingekeilt wie ich bin, aber ich feuere sie geradezu an, sich den Platz zu krallen.

“Schauen Sie da, der schönste Tisch im Lokal wird frei, Ihr verdienter Lohn für den ach so saumässig harten Tag, den Sie gehabt haben müssen”, oder so ähnlich. Sie steht da, mit hartem, durchgestrecktem Rücken, als hätte sie das Brett nicht vor dem Kopf sondern im Kreuz. Ich hätte sagen, ja rufen, ja drohen müssen: “Sonnst schnappe ICH ihnen den Platz weg.” Aber das besorgen natürlich andere. Längst ist der Tisch wieder besetzt. Das dauert hier durchschnittlich schlappe dreissig Sekunden, scheint mir. Ein mörderisches Tempo für alte Damen, zugegeben.

Nun sitzt sie also, aber sehr unruhig. Die Handtasche thront auf dem Tisch. Stimmt, da ist ja auch noch Platz. Nervös zupft sie sich imaginäre Fusseln vom Pullover, der sich über grotesk dünne Arme spannt. Ihre Augen sind klein und kalt und vergraben sich in ihrem Kopf, als müssten sie ihr Gift im Rückenmark alle dreissig Sekunden erneuern. Ich fühle mich mies und bin sogleich ein wenig traurig und bestrafe mich pflichtschuldigst für den boshaften Gedanken, ob sie in der Handtasche wohl ihr Tafelsilber mit sich rumträgt?

“Wird man hier auch bedient?” Seit dem sie sitzt, sind keine zwei Minuten vergangen.
“Und haben Sie etwa schon bestellt?”
“Ja, man wird hier sogar freundlich bedient und ja, ich habe schon bestellt.”
Ich fürchte zwar, dass ich für dieses unverdiente Glück, bereits auf den Espresso und nicht erst auf die Bestellung zu warten, sogleich bestraft werde, aber Mann hat ja Mut.
“Ist die unsere die Dicke da drüben?”
Zugegeben, die Kellnerinnen sind etwas gar gut genährt, ein bisschen Reklame und Mahnung für diesen Ort zugleich, aber ich sage es mit Überzeugung:
“Sie meinen die Dame mit den schwarzen Haaren da drüben? Sie ist sehr freundlich und wird gleich kommen.”

Das weiss ich, weil sie mein Espresso-Tablett mit den Amarettis über ein paar zusammen gesteckte Köpfe von Herren in dunklen Anzügen balanciert und zielsicher auf mich zusteuert.

Natürlich kommt jetzt, was kommen muss: Die Kellnerin in dem überfüllten Lokal würde gerne gleich die Bestellung des Gastes aufnehmen, der aber weiss noch gar nicht, was er bestellen will – und geht erst mal auf Toilette. Mit Handtasche aber ohne das Gepäck, immerhin.

Ich fühle mich allerdings nicht zum Wach-Wau-Wau verpflichtet und sehe meine Chance. Und sie kommt sogleich: Drei Tische weiter wird ein winziges Tischchen frei. Ja, es ist wunderbar winzig und verträgt wirklich nur zwei Personen. Und diesen winzigen Platz werde ich zu verteidigen wissen!
Ich wechsle die Fronten, begleitet von den mitfühlend verstehenden und – ich glaube zumindest – diskret zwinkernden Augen der Kellnerin. Und da kommt sie ja schon, meine Erlösung. Die Kollegin ist da, und im Nu habe ich nicht nur die Fregatte vergessen, sondern überhaupt alles und jeden, so gut unterhalten wir uns. Und werden Teil dieses Geräuschpegels, der allen zu gönnen ist, die in ihm gute Erfahrungen machen – oder Gesellschaftsstudien, die sie zumindest neutral bewerten können.

Bild: perlenkueche.ch