Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Zürich - eine zufällige Rundschau

∞  4 September 2009, 20:52

Ich habe die steinerne Leere, den Hall der kirchlichen Stille verlassen. Der blassblau erhellte Himmel hat sich ausgeregnet. Ich atme die frische Luft tief ein, ziehe den Pullover aus und fühle prickelnde Kühle auf meinen Armen. Nach dem erfrischten Geist wecke ich meinen Körper. Mein Blick springt über Zürichs Altstadtdächer, von Giebel zu Kamin zu Dachterrasse zu Abflussrohr, und während die Limmat ruhig weiter fliesst, schlendere ich über nass glänzende, glatt schimmernde und doch trittsichere Pflastersteine in die Stadt hinunter. Schnell wachsen die Häuserfassaden immer enger neben mir in die Höhe, verschlucken Lärm und lassen die Schatten wachsen.

Es ist Zeit, an ein paar Besorgungen zu denken. Die Bahnhofstrasse ist so nah, und mit ihr wieder eine ganz andere Welt. Nirgends treffen sich so viele unterschiedliche Geschichten und Lebensentwürfe wie hier. Markengläubige kreuzen den Weg von Heilsarmee-Offizieren, eine endlos lang scheinende Touristenkolonne staunt nach links und rechts, während ich unzählige Namensschilder lesen kann, jedes einzelne fein säuberlich angeklebt, meist auf aufgesetzten Brusttaschen von offenen, pastellfarbenen Sommerhemden. Bitte nicht verkühlen, Mr Bésonnat aus Quebec, Montreal. Europa in fünf Tagen lohnt sich nicht, wenn Ihnen Zürich nur die Grippe bringt.

An ihrem Ende gibt die Karawane mir schliesslich den Blick frei auf eine Bank, ganz nah am Hauptbahnhof, die da steht wie eine aufrechte Boje im Sog des aufgewirbelten Wassers einer Schiffsturbine. Darauf sitzt keine Möwe, sondern eine Gestalt zeitlosen Alters, mit wächsernem, durchsichtig blassem Gesicht. Unter der gestrickten, mit Flicken übersäten grauen Wollmütze kleben strähnige Haare gleicher Farbe an der Kopfhaut, und am Hinterkopf ragt ein müder Büschel Haar aus einem ausgefransten Loch im Saum der Mütze. Die Frau spricht zur leeren Bank gegenüber und die Worte, mit denen sie ganz augenscheinlich ihr Leben erzählt, könnten tatsächlich in einer Therapiestunde fallen… Die Frau spricht laut, und doch werden ihre Worte vom Wind fast verschluckt. Sie scheint ihre Hände niemals still zu halten. Erstaunlich feingliedrige Finger halten eine Zigarette, deren Glut durch die lebhafte Gestik immer neu angefacht wird und die Zigarette herunter glimmen lässt, ohne dass sie mit einem einzigen Zug geraucht würde. Für ein paar Ewigkeiten sehe ich in ihre Augen. Sie sind das einzige, was sich im Gesicht und im Oberkörper der Frau nicht bewegen. Die Rolltrette des Shopvilles spuckt die nächste Touristengruppe aus, und ich ziehe in deren Sog ebenfalls weiter. An der Hand rollt mein eben erstandener neuer Reisekoffer mit mir mit.

Wenn mir jetzt jemand sagen würde, dass ich es verdient hätte, reisen zu dürfen, so würde ich ihm diesen noch leeren Koffer vor die Füsse werfen. Nein, das Mindeste ist es, mit den Ungleichheiten in unseren Lebensumständen zurecht zu kommen, ohne Platitüden zu bemühen.

Drei Damen schweben an mir vorbei. Uniform gekleidet, in High Heels, Deux Pièces und samt Parfüm von der Sorge umgeben, irgendwann doch zu altern.

Verrückt werden kann man in dieser Welt an vielen Dingen. Und so ganz normal zu bleiben, ist irgendwie auch nicht zu raten.