Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Wortbild: Teil des Ganzen

∞  5 Juni 2007, 18:02

Ich habe mir angewöhnt, den Tag mit einem Spaziergang zu beginnen.
Ich gehe oft den gleichen Weg, mir begegnen die gleichen Menschen (und deren Hunde), und doch sehe ich jeden Tag anderes am Wegrand.

Wie sich die Natur verändert, ist mir immer wieder ein Wunder. Und wie sie jeden Tag dennoch gleich beginnt, ein Trost.

Der Tau auf den Blättern, das Singen der Vögel in den Baumkronen und Büschen – der Tag begrüsst mich jedes Mal mit einem betörenden Augenaufschlag und Engelszungen. Manchmal hänge ich meinen Gedanken nach, oder ich bin noch schläfrig, so dass meine Aufmerksamkeit in mir drin festklebt und nicht aus meinen Sinneshöhlen tritt…

Wunder, sagt man, sind selten. Also ist dies keines. Denn dieses Wunder wiederholt sich täglich. Ich muss es nur auch zu dem meinen machen, indem ich es sehe, höre, rieche, schmecke, fühle.

Jeder Tag im Wald bringt Leben und Tod, Keimung und Verwesung. Alles aber gehört zu einem Ganzen, das in seiner Pracht und in einer Art Güte eine schöpferische Schönheit besitzt, die menschliches Schaffen niemals erreichen kann.
Aber wir sind genau so Teil dieses Ganzen, und indem wir versuchen, in jenen Momenten, in denen wir den Segen dieser Einheit fühlen, dieses Glück der eigenen Wurzeln zu beschreiben, erfahren wir unsere Kreativität.

Musikalische, sprachliche, bildende Kunst – der Wunsch nach Ausdruck und Beschreibung unserer Freuden und Nöte, wie drängend er sein kann, wie süss quälend, wenn das Erlebte in seiner Schönheit nur ein Abklatsch ist auf dem Papier, und wie tröstend, wenn das gefühlte Leid wenigstens in kleinsten Dosen reflektiert werden kann!

Wir schreiben und wir bilden uns nicht nieder, wir häuten uns.
Wir erzählen, was wir sehen, wir fragen, was wir nicht verstehen, wir suchen Antworten oder weichen ihnen aus. Wir tun es weitschweifig oder nüchtern, nachsichtig mit uns oder selbstzerfleischend streng.

Immer aber sind wir unterwegs. Und nie verlassen wir den Weg, auf dem jeder Morgen tatsächlich mit einem neuen Tag beginnt. Bis er sich in einem Ganzen erfüllt.

Die Erfahrung und das Wissen, auch im Ganzen immer einzelnes einsames Teil zu sein, sollte uns die Weisheit schenken, uns gegenseitig Achtsamkeit zu gönnen: Es ist einfach viel schöner, manchmal gemeinsam zu wandern. Und selbst wenn wir allein gehen, ist es gut, andere vor und hinter sich zu wissen, von ihnen erzählt zu bekommen und ihnen erzählen zu können.

*


Zu “Wortbild:” gebe ich den Text jeweils an Caro weiter, die dann ein Bild dazu aussucht oder bearbeitet:
Diesmal hat sie ein Spinnennetz gewählt – ohne zu wissen, dass das erste Kleinod, das mir am Morgen auffiel, tatsächlich ein Spinnennetz war, das über einer Hecke gespannt sich unter Wassertropfen bog…



dazu schrieb sie mir:

In diesem Bild habe ich gefunden:

- das Ganze als Teil einer schöpferischen Schönheit, die der Mensch nie erreicht. In der Spinnwebe vereinen sich Schönheit und Tod!

- Leben und Tod in der Spinnwebe ist ebenso ein Spiegel unseres Lebens, unseres Platzes in dieser Schöpfung

[...]

- Ein Spinnennetz steht für mich auch für das unabänderliche Fortbewegen auf seinem Weg, da die Spinne immer wieder von Neuem ihr Netz webt, ohne zu hinterfragen.



Und ich sage danke!
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