Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Wort für Wort ein Mensch

∞  23 Juni 2011, 22:00

Es gibt kein Stigma des Analphabeten in unserer Gesellschaft, wenn Betroffene sich die Chance geben, hinzu zu lernen – und wir sie dazu ermuntern.


Es soll in der Schweiz etwa 800’000 Menschen mit einer signifikanten Lese- und oder Schreibschwäche geben. Das bedeutet, dass jede(r ) Zehnte sich angewöhnt hat, in seinem ganz gewöhnlichen Alltag Mittel und Wege zu suchen, um zum Beispiel zu verbergen, dass man das Schild, von dem der Nachbar spricht, nicht lesen kann. Es bedeutet, Schwierigkeiten zu haben, ein Handy bedienen zu können, geschweige denn, ein E-Mail zu schreiben. Oder einen Rapport. Oder einen Mietvertrag zu verstehen.

Das gibt es doch gar nicht!
dürfte lange die einzige Reaktion gewesen sein, wenn man so was hörte. Das hat sich doch deutlich verändert. Dass ein auch ordentlicher Schulabgang nicht bedeutet, dass diese Schwäche nicht bestünde, wissen wir wohl längst, zumindest im Zusammenhang mit der Problemstellung mit vielen zugewanderten Schulkindern. Es gibt dieses Dilemma aber auch sehr verbreitet unter Schweizern um die fünfzig – es ist überhaupt Zeit, in dieser Frage kein Tabu mehr zuzulassen und schlicht anzuerkennen, dass es Menschen mit diesem Handicap gibt, ohne Schuldzuweisungen. Hemmung, Angstschwellen, Scham – es ist schon schwer genug, wenn sie in den Köpfen der Betroffenen bestehen. Dabei gibt es heute viele Angebote, Informationstage, Anlässe und Kurse, in denen Menschen mit solchen Schwächen erfahren können, dass es einen Weg gibt, sich diese Welt ein Stück weit zu erschliessen.

Wenn Sie regelmässiger Leser dieses Blogs sind, dann qualifizieren Sie sich damit bereits als ein Mensch, der eine ganze Welt an Information und Begegnungsmöglichkeiten nutzt und erfährt, die diesen 10% unserer Bevölkerung vorenthalten sind. Es dürfte für uns alle nicht schwer sein, uns vorzustellen, was es bedeutet, wenn da ein kleines Törchen aufgeht. Es ist, als würde man als Kurzsichtiger erstmals eine Brille aufgesetzt bekommen. Leider geht das nicht so einfach, aber jedes Licht im Tunnel macht Mut, einen Weg zu einem Ziel zu gehen, das bisher unerreichbar schien. Und weil es diese Angebote gibt, und weil es jeder Mensch verdient, an unserem Leben auf verschiedene Weisen teilnehmen zu können, sollten wir solche Menschen, wenn wir sie denn kennen, ermuntern, einen Kurs zu wagen: Schaffen sie dies, geben sie sich diesen Schubs, so haben sie das wichtigste Kriterium schon erfüllt – und sind manchem auch schon fast ein Vorbild: Es bedeutet, sich in seinen Stärken und Schwächen wahrzunehmen und mit sich arbeiten zu wollen. Es bedeutet, vom Leben etwas zu erwarten und dafür selbst einen Einsatz leisten zu wollen – und zu können. Und diese Menschen, da bin ich ganz sicher, treffen auf Lehrer, die in ihrem Tun eine grosse Befriedigung erfahren.

Was ich auf DRS 1 heute hörte, waren Tondokumente einer Aufbruchsatmosphäre, mit Menschen, welche sich aufmachen, sich die Welt zu erschliessen, statt sich ausschliessen zu lassen.
DRS 1, Doppelpunkt, Sendung von heute abend:

Hilfe, ich kann nicht lesen und schreiben!
Und: Anlaufstelle für Illetristen