Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Wörter sind nie virtuell

∞  22 April 2008, 07:45

Wir sagen: „Wir surfen im Datenstream“ der neuen Welt – und sitzen dabei auf unserem Bürostuhl, ohne dass wir unseren Hintern länger spüren würden. Wir sind entschwunden. Der Begriff “Virtuell” bezeichnet eine Wirklichkeit, die immer wahrscheinlicher wird und doch künstlich bleibt, lese ich im Lexikon. Genau darin liegt die Faszination und die Krux des Web 2.0, also jenes Teils des Internets, das um den Surfer buhlt, ihn zum User machen und in Interaktion einbinden will, eben wirklich ein Netz bildet, auch um ihn.

Dieses Datennetz ist so fest verwebt, dass nichts verloren geht, und doch ist es voller Löcher, dass wir laufend verloren gehen können. Wir bekommen eine Art virtuellen Puls, wenn wir eintauchen. Es gibt an jeder Ecke eine Gelegenheit, ein Ansprechen, dem wir uns verschreiben können. Wir können kommentieren, Kontakt suchen. Richtig stellen. Provozieren. Uns aufregen. Wir können von weit her kommen, uns einmischen und in ein Haus eindringen, dort unsere Spuren hinterlassen und die Schuhe abstreifen oder auch nicht, ungefragt. Bitte, wenn die Tür nicht abgeschlossen ist… !?

Ein Web 2.0 – Angebot ist eine Art öffentlicher Raum, jede Kommentarfunktion ein kleines Podest für Redner und solche, die es werden wollen. Wie schnell wir das tun, ob wir nur deklarieren, diskutieren oder gegenargumentieren, das können wir halten, wie wir wollen.

Wir können es wie eine Art öffentliche E-mail-Kommunikation betreiben, uns genüsslich die Antwort überlegen, die Emotion hoch kochen lassen und dann einen Gegenangriff starten, je nach Temperament.

Bei Rede und Gegenrede kommen alle Teilnehmer von irgendwo her, wir verschwenden keinen oder viel zu wenige Gedanken darauf, wer wie viel vom anderen kennt. Wir sind uns nicht bewusst, welcher Austausch daneben wirklich per Mail oder über Nachrichten-Tools läuft, noch machen wir uns wirklich klar, wie sehr wir selbst zu manipulieren versuchen, indem wir mehr oder weniger von uns preisgeben und vor allem steuern wollen, was wir offen legen.

Wir gleichen einem heterogenen Kreis, in dem der eine nackt vor uns sitzen mag ohne dass wir es wissen und der Nachbar in Wahrheit eine Maske über dem Kopf trägt, obwohl wir glauben, sein Gesicht zu sehen. Und das Publikum bleibt gänzlich unsichtbar und ist doch da.

In jeder Diskussion, in die wir geraten, treffen wir auf verborgene Vorgeschichten, die einen Teil der Diskutierenden vielleicht stillschweigend umtreiben, während wir sie nicht kennen. Im Gegensatz zu einer realen Begegnung ist dies sehr viel bedeutsamer, weil die Summe der Informationen und Wahrnehmungen über Einzelne sehr viel kleiner ist. Unsere Möglichkeiten, eine eigene Beziehung, eine Relation zu anderen aufzubauen, sind viel beschränkter als in der realen Begegnung. Das ist Teil der ursprünglichen Faszination und wird sehr schnell zur Krux: Unser Ego bricht in diesen unbestimmt bleibenden Raum ein und will ihn mit der eigenen Wunschwirklichkeit füllen. Andere versuchen das gleiche, und so werden wir schnell und sehr oft mehr selbst manipuliert, als wir glauben, unsererseits zu steuern, vorzuenthalten oder bewusst offen zu legen.
Wir wollen der virtuellen Welt eine Realität geben, weil wir uns in ihr zurecht finden müssen, wie in allen Welten, die wir entdecken. Und wir wollen Spuren hinterlassen, so bald wir denken, dass ehrbar sein kann, was wir tun.

Es ist faszinierend und erschreckend zugleich, welches Echo wir haben können, welche Vervielfältigung sich einstellen mag, vielleicht, und was wir wohl dafür tun müssen?
Und weil wir scheinbar so geschützt sind im luftigen Netz, gebrauchen wir Worte, die wir in ihrer Schärfe oder auch in ihrer Wärme so von Angesicht zu Angesicht nicht brauchen würden.

Diese so leicht geschriebenen Worte aber, sie haben Wirkung über den Moment hinaus. Kein einziges können wir zurück nehmen, und das hat mit Google nichts zu tun, sondern mit dem Wesen der Nachricht an sich, mit dem geschriebenen Wort, mit dem wir so leichtfertig umzugehen begonnen haben. Jede Beleidigung, jede Verletzung, auch die, welche wir zufügen, nehmen wir mit nach Hause, wenn wir den Off-Knopf drücken.

Und dann sitzen wir einsam da, mit unserem aufgeblasenen Ego, oder tragen es schlaff im nassen Sack hinter uns her, lange schon, bevor wir es bemerken. Von dem Moment an, in dem wir unseren Hintern wieder spüren, jetzt gar bis auf die Knochen.
Die reale Konsequenz virtueller Erfahrungen – wir tragen sie mit uns selber aus, fernab der Tastatur…

Bildquelle: Neph’s Blog